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[GAA, Bd. IV, S. 108]

 


  Schiller strebt ernst zum Idealen und Erhabenen, — Goethe
hin und wieder desgleichen, aber seine Eigenthümlichkeit ist
Anmuth, mit einiger Empfindung colorirt, und ein kluges,
zeitgemäßes Schmiegen in jede Form.

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  Verschieden wie das Leben beider Männer, ist ihre Poesie.
Goethe, begabt mit vielem Talent, war Sohn wohlhabender
Eltern. Nahrungssorgen drückten ihn niemals, und seine Grillen
werden ihm bei solchen Umständen, und bei dem leichten
Temperamente, welches in seiner glücklichen Lage gedieh, die
10Brust auch nicht all zu stark zerrissen haben. Er studirte mehr,
um den einmal nöthigen akademischen Cursus zu machen, als
sich zum Broderwerbe vorzubereiten. Sein Goetz von Berlichingen
brachte ihm Ruf. Werther gleichfalls. Der Herzog von
Weimar stellte ihn an, und ließ ihm auch im Staatsdienst
15ziemlich freien Lauf. Goethe reisete oft, und wohin er wollte.

  In Goethes langem Leben wäre also beinahe nichts, was ihn
zur Poesie, einer Tochter des Schmerzes, hätte aufregen können,
wenn er nicht, wie er selbst verrathen hat, in der Jugend eine
Brustwunde empfing, aus der bei so Manchem Jamben, Hexameter
20p.p. getröpfelt sind: die Liebe. Es war aber nicht die
ideale Liebe Dante's, noch dessen Patriotismus. Auch hatte
sie schwerlich etwas gemein mit der zu frühen Ehe Shakspeares,
welcher sehr jung eine weit ältere, und wahrscheinlich
eben nicht unübel geformte Frau heirathete, und grade dadurch
25nach einigen Jahren zu seiner oft etwas beschränkten, aber
doch möglichst ruhigen Weltanschauung kam. Goethe hat
nach seiner Wahrheit und Dichtung ein nettes, vermuthlich
armes, bürgerliches Mädchen, Gretchen, geliebt, und diese Liebe
wohl ziemlich cultivirt. Seine wohlhabenden, spießbürgerlichen
30Eltern haben ihm aber wie es scheint, nicht erlaubt, seine
Leiden oder Versehen durch die Ehe zu mildern. Der Sohn
fand freilich bald nachher in Kunst und Leben Abwechslungen,
— aber alte Liebe rostet nicht, auch nicht bei dem angeblich
so objectivem Goethe. Fast alle Mädchen und Damen, die er
35geschildert hat, haben etwas von dem Gretchen aus seiner
Wahrheit und Dichtung. Margaretha im Faust, Clärchen im
Egmont, Mariane in den Geschwistern, die Spinnerin in dem
nach ihr benannten Gedichte, sind dieselben Personen. Lotte
im Werther, Mariane und Mignon im Meister, Leonore im
40Tasso, Eugenie in der natürlichen Tochter p.p. sind, wie das
einem gebildeten Dichter sehr leicht war, in Sprache und