Nr. 75, siehe GAA, Bd. V, S. 90 | 29. August 1823 | | Christian Dietrich Grabbe (Detmold) an Ludwig Tieck (Dresden) | Brief | | | | Vorangehend: | Nachfolgend: |
| 10 Hochwohlgeborner Herr! Verehrtester Herr Geheimrath! Ihrer ausgezeichneten Güte bin ich die drei schönsten Monate meines Lebens schuldig, und selbst auf die Gefahr Sie zu langweilen, bin ich verpflichtet Ihnen Rechenschaft aus der 15Ferne zu geben. Ich reis'te natürlich ein wenig trübe von Dresden ab, und kam so nach Leipzig, wo ich mit mehreren Jugendfreunden die letzten Blüthen der Erinnerung abpflückte. Ermuthigt durch den Gedanken an Ewr Hochwohlgeboren trat ich nachher in Braunschweig vor Klingemann, und die 20Schonung und Humanität, mit welcher Sie mich behandelt hatten, war einer der Trostgründe, welche mich aufrecht erhielten, als mir die Anstellung abgeschlagen wurde. Gewiß bin ich es zum größten Theil Ihrem Beispiele schuldig, daß mir die dasige Theaterdirection eins meiner Stücke mit 30 rthlr. 25abkaufte, welche mich in den Stand setzten, nach Hannover zu eilen und mich dort zu erbieten, von der Pike auf an der Bühne zu dienen. Aber leider war der Freiherr Grothe eben nach Süddeutschland gereis't, und ich konnte auf der Stelle keine sichere Antwort erhalten. Ich hielt für meine 30Pflicht, nicht länger das Geld auf's Ungewisse hin im Gasthause zu verzehren, sondern zu Fuße einige Thaler zu meinen Eltern zu tragen. Mich ergriff's wie ein Krampf, als ich über die schwärzlichen Berge meiner Heimath, dem traurigen Wiedersehen entgegen klettern mußte. Doch genug von allem, — 35ich habe kein Recht, Sie an meiner Lage Theil nehmen zu lassen, — sie ist zu abscheulich. — Bisweilen habe ich die Idee, mich nach Bremen zu dem neu entstehenden Theater [GAA, Bd. V, S. 91] zu wenden, aber wie darf ich solche Reise auf Wagniß unternehmen? — Könnten Ewr Hochwohlgeboren mich zu irgend einem Geschäfte gebrauchen, welches anderthalb hundert Thaler einbrächte, so wäre ich erlös't und glücklich. Vielleicht 5hätte ich dann bald Gelegenheit mich weiter empor zu bringen, oder zum wenigsten könnte ich sie doch abwarten. Ich denke fast stündlich Ihrer wie eines guten Genius, und würde dieß wahrlich nicht niedergeschrieben haben, wenn es mir nicht unwillkührlich aus der Feder geflossen wäre. Wenn 10Ewr Hochwohlgeboren mich auf irgend eine Art einer kurzen Antwort würdigten, so würde ich innigst erfreut seyn, selbst wenn sie meine Bitte nicht gewährte. Auf alle Fälle würde ich daraus frischen Lebensstoff ziehen, dessen ich oft recht sehr bedarf. — Mit der tiefsten Hochachtung bin ich | | Ewr Hochwohlgeboren | | | gehorsamster | Detmold den 29sten Aug. | | Ch. Grabbe. | 1823. | | |
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75.
H: Bekannt nur der Schluß des Briefes (von den Worten „Ich
denke fast stündlich Ihrer“ an). 1 Bl. in 40; 1⅓ S.
F: GrA
D: „Briefe an Ludwig Tieck“. Bd 1, S. 245—46, als Nr II.
S. 90, Z. 10 f.: Hochwohlgeborner Herr! / Verehrtester Herr
Geheimrat!] gesperrt D
S. 90, Z. 18: Ewr] Ewr. D Ebenso S. 91, Z. 2 und 15
S. 91, Z. 17 f.: Detmold den 29sten Aug. 1823.] Detmold den
29sten Aug. 1823. am Kopfe des Briefes D
Wukadinović meint (WW VI 269 zu V 258, 8 ff.), dieser Brief
scheine nur das Konzept des folgenden (Nr 76) zu sein.
S. 90, Z. 24: eins meiner Stücke: „Nannette und Maria“.
S. 90, Z. 27: der Freiherr Grothe: Es handelt sich wohl um
August Otto Ludwig Freiherrn v. Grote (1787—1831), der 1816
seinen bleibenden Wohnsitz in Hannover genommen hatte und am
6. Juni 1823 vom König von Hannover zum Kriegskanzleidirektor
mit dem Range eines Generalmajors und zum Oberzolldirektor
[Bd. b5, S. 473]
ernannt worden war. Dieser hatte sich in der Tat genötigt gesehen,
noch im selben Jahre zur Wiederherstellung seiner geschwächten
Gesundheit ein wärmeres Klima aufzusuchen, und deshalb mit einem
Teile seiner Familie eine Reise durch die Schweiz nach Rom angetreten.
(Vgl. „Neuer Nekrolog der Deutschen“ Jg. 9, 1831, Th. 1.,
Ilmenau 1833, S. 395—99.)