Nr. 69, siehe GAA, Bd. V, S. 80 | 21. May 1823 | | Christian Dietrich Grabbe (Dresden) an Adolph Henrich Grabbe, Dorothea Grabbe (Detmold) | Brief | | | | Vorangehend: | Nachfolgend: |
| Liebe, theure Eltern! Ich bin noch gesund, möchtet Ihr es doch auch seyn. Den Brief mit den Kleidern habe ich zu meiner großen Freude erhalten, und ich danke Euch für jetzt herzlich dafür. 5 Hier lebe ich noch so wie sonst, habe auch wieder Geld bekommen, und denkt euch, war neulich mit dem Fürsten von Bückeburg und seiner Gemahlinn in einer Gesellschaft. — Alle meine Sachen sind hier; in Berlin habe ich nichts mehr. — Daß Werfel krank von Prag zurückgekommen, ist wahr; 10es that mir leid. — Ich habe nun schon wieder ein drittes Stück fertig, und hoffe in 3 Wochen noch mit einem vierten fertig zu seyn. Daß ich Euch gewiß einmal bald besuche, darauf könnt Ihr Euch heilig verlassen. — Das Essen in den Gasthäusern ist sehr gut, oft habe ich es aber umsonst. Von Bekannten 15habe ich nur ältere Leute. — Daß ich mich mahlen lasse, kann hier am leichtesten geschehen, weil in Dresden so viele Mahler sind. — Ich wohne hier eine Treppe hoch bei einer alten Frau, deren beste Eigenschaft ist, daß sie mir wirklich reinen Caffee kocht. — Neulich war ich nach Tharand 20und in die sächsische Schweiz gereist; das sind herrliche Gegenden! Wenn ich auf das Land will, so kann ich die Familie eines Gutsbesitzers, ½ Stunde von der Stadt, welche ich durch ihren Sohn, einen Studenten in Leipzig, habe kennen lernen, besuchen und das thue ich auch. (NB. Ich schreibe den Brief 25auf solches Papier, weil das andere durchschlägt.) Von meinen Freunden in Berlin habe ich gewiß über 100 Briefe liegen, die ich alle franco bekommen habe. Man sieht doch daran, daß man mich nicht vergißt, und das kann mich unendlich rühren. — Der König von Baiern ist jetzt fort; er beträgt sich ohngefähr 30wie ein reicher Edelmann; man erzählt sich viele spaßige Anekdoten von ihm; in München soll er oft mit den Bauern auf dem Lande sprechen. Der König von Sachsen lebt viel prächtiger und zurückgezogener. — In der katholischen Kirche ist hier Sonntags herrliche Musik, nur thut es Einem 35leid, wenn man hört, daß die Leute, welche singen, Verschnittene sind. — Ich lasse mich einen Tag um den andern rasiren. — Der 10te Mann hat in Dresden fast jedesmal einen Buckel oder wenigstens schrecklich schiefe Beine, die Menschen in Berlin sind weit größer und schlanker. — Was sagte der 40alte Hofprediger, als er den Brief bekam, daß Werfel nach [GAA, Bd. V, S. 81] Italien ginge? — — Meine Wäsche ist in gutem Zustande; ich ziehe sehr oft reine Hemde an; auch kostet sie nicht viel. — Den alten Flausch habe ich noch immer, trage ihn aber nur als Schlafrock auf der Stube. — Künftig könnt Ihr Euch 5darauf verlassen, daß ihr allemal einige Tage nach Eurem Briefe eine Antwort von Eurem Sohne haben sollet; dießmal kommt sie etwas später, aber ich hoffe, desto angenehmer. — Es blüht und grünt hier, das Korn steht ellenhoch; ist es zu Hause auch so? Bald sehe ich nun grüne Weinberge, und das 10noch dazu mitten aus der Stadt, von der Elbbrücke aus. — Von Leipzig nach Dresden und umgekehrt geht jetzt eine Eilpost in 6 Stunden, und wir sind also im Grunde nicht weiter auseinander, als da ich in Leipzig war. — Die Mutter muß, muß Caffee trinken, und du Vater! sollst auf den Keller gehn! 15— Glaubt nur ich werde stets, stets an Euch denken, kaum soll eine Stunde vorübergehen, ohne daß ich es thäte. | | Euer | | | treuer | [Dresden.] Den 21sten Mai | | ChD Grabbe. | [1823.] | | |
|
| |
69.
H: Doppelbl. in 40; 4 S.
F: GrA
T: Gegenw. S. 11.
T: WBl IV 352—54, als Nr 17.
D: WGr IV 178—80, als Nr 23.
S. 80, Z. 22: Stunde] fehlt H
S. 80, Z. 23: lernen] fehlt H
S. 80, Z. 28: mich] micht H
S. 80, Z. 6 f.: Fürsten von Bückeburg] Mit Rotstift unterstr. H
S. 80, Z. 10 f.: drittes Stück] Mit Rotstift unterstr. H
S. 80, Z. 11 f.: vierten fertig zu seyn] Mit Rotstift unterstr. H
S. 80, Z. 14 f.: oft habe ich [bis] Leute] Mit Rotstift unterstr., von
(Be-)kannten an doppelt H
S. 80, Z. 24: auch. (NB. Ich schreibe den] Mit Rotstift unterstr. H
S. 80, Z. 37—39: Mann hat in, (jedes)mal einen Buckel o(der),
schiefe Beine, Berlin [und] und schla(nker)] Mit Rotstift unterstr. H
S. 80, Z. 6 f.: mit dem Fürsten von Bückeburg und seiner Gemahlinn:
Georg Wilhelm, Fürst von Schaumburg-Lippe (1784 bis
1860), und Fürstin Ida Caroline Luise (1796—1869), eine Prinzessin
von Waldeck, mit der er seit dem 23. Juni 1816 vermählt war.
S. 80, Z. 9: Werfel: Siehe die Anm. zu S. 32, Z. 33.
S. 80, Z. 10 f.: ein drittes Stück: „Nannette und Maria“.
S. 80, Z. 11: mit einem vierten: „Marius und Sulla“.
S. 80, Z. 29: Der König von Baiern: Siehe die Anm. zu S. 76,
Z. 33 f. Nach fast sechswöchiger Anwesenheit hatte die bayerische
Königsfamilie gegen Mitte Mai Dresden wieder verlassen. („Morgenblatt“
Nro 174, Dienstag, 22. Juli, S. 696.)
S. 80, Z. 32: Der König von Sachsen: Friedrich August I. mit
dem Beinamen der Gerechte (1750—1827).
S. 80, Z. 40: der alte Hofprediger: Droste; siehe die Anm. zu
S. 28, Z. 39.
S. 80, Z. 37 f.: Der 10te Mann hat in Dresden fast jedesmal
einen Buckel [usw.]: Daß dieser Eindruck sich in der Tat dem
Fremden ausdrängen mußte, bezeugt u. a. Adolph von Schadens
[Bd. b5, S. 466]
„Katersprung von Berlin über Leipzig nach Dresden“ (Deßau,
Schlieder; Leipzig, Kollmann in Comm. 1821), ein Werk, in dem
den „Buckligen und Kropfigen“ in der Hauptstadt des Königreichs
Sachsen ein eigenes Kapitel gewidmet ist. (S. 71—75.) Vgl. ferner
Erich Ebsteins Aufsatz „Über das gehäufte Auftreten von Buckligen,
bes. in Sachsen“ in der „Zeitschrift für Krüppelfürsorge“,
Bd 13, H. 2, 1920, S. 25—28. Darin werden außer Schaden und
Grabbe noch andere Beobachter zitiert.