Nr. 60, siehe GAA, Bd. V, S. 66 | 18. März 1823 | | Christian Dietrich Grabbe (Leipzig) an Ludwig Tieck (Dresden) | Brief | | | | Vorangehend: | Nachfolgend: |
| Hochverehrter Herr und Meister! Das wehmüthige Gefühl, welches jeden Gebildeten ergreift, wenn er hört, daß ein Mann wie Sie, der ganz Deutschland 25mit seinen Werken erfreut, an schmerzlicher Krankheit leiden muß, kann ich Ihnen nicht schildern; könnte ich Ihre Gicht nur auf meine jungen Schultern laden! Gewiß beurtheilen Sie zwar nicht mein Lustspiel, aber mich selbst zu strenge, wenn Sie glauben, daß ich mich noch jetzt 30in solchen Gemeinheiten gefalle; das Stück entstand ja mit dem Gothland zugleich in einer Periode, die nun schon wenigstens in soweit vorüber ist, daß ich neulich, als ich im Stillen mein Trauerspiel wieder durchsah, glühend roth wurde. Ich hoffe, daß Sie mich in meinem neuesten Producte, welches 35ich Ihnen bald zu übersenden gedenke, in mehrfacher Hinsicht nicht wieder erkennen. Jugendlicher Keckheit, die ihre Narrethei [GAA, Bd. V, S. 67] einsieht, pflegt man ja von allen Fehlern am leichtesten zu verzeihen, und ich bitte zagend um Nachsicht. Vielleicht hat selten Jemand seinen gewählten Beruf so ungern verlassen als ich. Ich habe mich deshalb seit einem 5Jahre an Hohe und Niedere gewendet, und ich weiß, daß ich mich niemals völlig von den Wissenschaften loszureißen vermag, aber Sie haben sicher schon zum Theil aus meinem vorigen Briefe wahrgenommen, wie wenig ich auf diesem Wege eine Beförderung erwarten darf, und sollte ich einst 10so glücklich seyn, Sie mündlich kennen zu lernen, so bin ich überzeugt, daß Sie selbst mich gleich nach unserer ersten Unterredung zu meinem Vorhaben ermuntern werden. Über mein etwaiges Talent zur Bühne wage ich mich nicht weiter auszulassen, weil ich dabei zu leicht in den Schein der 15Selbsthudelei verfallen möchte: ich versichere nur ganz einfach, daß ich meine Stimme ohne Anstrengung vom feinsten Mädchendiscant bis zum tiefsten Basse moduliren kann, und daß der höchste Tadel, welchen man in Gesellschaften über meine Darstellung aussprach, darin bestand, daß ich die 20Charactere beinahe zu scharf und eigenthümlich aufgriffe und im Tragischen den Zuschauer zu sehr erschreckte. Auch lautet es läppisch, aber ich muß es doch sagen, daß ich in dem Augenblick keine Rolle wüßte, die ich mir nicht binnen zwei Wochen zu spielen getraute; mindestens zweifle ich nicht, 25daß, wenn ich z. B. den Hamlet oder Lear gut sollte darstellen können, ich den Falstaff oder Dupperich nicht weniger gut agiren würde; ja es scheint beinahe, als vermöchte nur diese Allgemeinheit mein Gemüth in steter Frische erhalten. Da ich aus Westphalen bin, wo man das Hochdeutsche im 30Gegensatz zum Plattdeutschen um so reiner ausspricht, und da ich noch dazu drei Jahre lang in Leipzig und Berlin auf meine Mundart geachtet habe, so brauche ich wegen meines Dialekts wohl nicht bange zu seyn. Wie gerne ich übrigens klein anfangen und mich in alle 35Schranken fügen werde, kann ich Ihnen nicht genug versichern, und wenn Sie nun gar sich herablassen wollten, mich während dieser Zeit der Niedrigkeit bisweilen Ihrer Belehrung zu würdigen, so hätte ich Ursache, der geseegnetsten und einflußreichsten Periode meines Lebens entgegen zu blicken. 40Und bekäme ich auch nur eine Gage von 200 rthlrn., so würde ich in diesem Falle selbst den reichsten Banquier in Deutschland [GAA, Bd. V, S. 68] nicht beneiden. Aber leider! leider! — ich zittere, indem ich es niederschreibe, und ich würde es nimmer thun, wenn es sich nicht um Alles handelte — muß ich Sie ersuchen, mir, wenn es möglich ist, wenigstens mit einem einzigen 5Worte und zwar — — mit der nächsten Post zu antworten. Sie können ja von Ihrem Bedienten, bloß das Wörtchen „Hoffnung“ oder „wahrscheinliche Anstellung“ in den Brief schreiben lassen, — es soll mir genug seyn, und ich weiß dann doch, wie ich mich hier zu verhalten habe. Auch verlange ich ja 10gar nicht Gewißheit, sondern nur die Aussicht, ob ich in Dresden, wenn ich mich als solchen bewähre, wie ich mich in diesem Briefe darstelle, vielleicht ein Unterkommen, bei dem ich nicht zu Grunde gehe, finden kann. — Nebenbei liegt ein Brief von dem Herrn Professor Wendt, welcher mich 15auf Ihre gütige Empfehlung sehr freundlich empfing; den Herrn Dr. Wagner habe ich bis jetzt noch nicht treffen können. — Ich stürze für Sie in's Feuer. | | Ihr | Leipzig, den 18ten März | | gehorsamster Ch. D. Grabbe. | 1823. | | | (Addresse: Fleischergasse nro. 241.) [Beilage.] Werther Freund Hr. Grabbe ist auf Ihre Empfehlung bei mir gewesen. Er hat 25mir seine Lage nicht nur vorgestellt, nach welcher es un- möglich scheint, ihn bei der Wissenschaft zu erhalten, sondern mir auch einiges aus Shakspearschen Stücken und zwar so vorgetragen, daß ich wenigstens fest überzeugt bin, er werde unter den Schauspielern nicht als gewöhnliche Person 30stehen. Nehmen Sie sich daher seiner immer so väterlich an, wie es Ihre Briefe an ihn aussprechen, die mich tief gerührt und mit neuer Liebe für Sie, wenn es möglich ist, erfüllt haben. Dieser Mensch scheint durch sein Naturell seine Kenntniße, seine durch verschiedene Lagen erhöhte Versatilität bestimmt 35zu seyn, durch die mannichfaltigsten Zustände sich hindurchzuschlagen, bis die Kraft sich zerrieben oder er in Anschauung eines Höhern Ruhe finden kann. Ich wünsche ihm das Beste, kann ihm aber leider nichts helfen, da hier bei der Bühne eben jetzt nicht anzukommen ist. Es ist eine der Eigenthümlichsten 40Naturen, die mir begegnet sind; kräftig in seiner Äusserung und doch voll ungemein viel Reflexion über sich selbst!! [GAA, Bd. V, S. 69] Mündlich Mehrers über ihn. Aber warum haben Sie mir denn auf meine lange Predigt auch nicht ein Wörtchen geantwortet? Wie weit ist die Novelle? Warten Sie nicht ab bis ich nach Dresden komme. Ich 5hoffe zu kommen, aber erst während der Messe — und in Vertrauen gesagt, nur der Mangel eines gewißen Etwas könnte mich hindern, das man in sofern mit Recht das Beste nennen könnte, weil sein Mangel meistens am Besten hindert, wie lucus a non lucendo — doch leuchtet es gar sehr — und es ist 10Ihnen kein Räthsel, was ich meine. Mit herzlicher Ergebenheit aber in der größten Eil treuverbundener |
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