Nr. 59, siehe GAA, Bd. V, S. 63 | 08. März 1823 | | Christian Dietrich Grabbe (Leipzig) an Ludwig Tieck (Dresden) | Brief | | | | Vorangehend: | Nachfolgend: |
| Hochverehrter Herr! Nahe am Untergange blicke ich noch einmal auf der Erde umher, und sehe Keinen, Keinen als Sie zu dem ich mich wenden möchte; ich flehe um nichts als diesen Brief zu lesen. 25 Ich bin in Lippe-Detmold von armen Eltern geboren; sie waren thöricht genug mich auf das Gymnasium zu schicken und dadurch meiner Seele Gelegenheit zum Erwachen zu geben; ich machte bald in den Wissenschaften bedeutende Fortschritte und überflügelte vielleicht manche meiner Lehrer; 30selbst die Fürstinn Pauline wurde auf mich sehr aufmerksam und bezeugte mir persönlich ihr thätiges Wohlwollen. Mein damaliger Vorsatz, zu dem mich mehrere Verbindungen in Hannover ermunterten, war, Reisender in Diensten der londoner wissenschaftlichen Societet zu werden, und ich brachte 35es wir[k]lich in der mathematischen und physischen Geographie, Astronomie und Naturgeschichte soweit, daß ich mich noch jetzt stehendes Fußes einem Examen glaube unterwerfen zu können. Mittlerweile wurde aber der lippische Oberarchivar mit mir bekannt; er fand daß ich mir nebenbei eine mehr [GAA, Bd. V, S. 64] als gewöhnliche Kenntniß der Geschichte erworben hatte, und machte mir Hoffnung dereinst sein Adjunct zu werden. Bei dieser Aussicht auf die einzige Versorgung, welche im Vaterlande für mich paßte, ließ ich alle übrigen Pläne fahren, und 5widmete mich bloß antiquarischen, historischen und politischen Studien. Daß ich während der Zeit auch alttestamentarische Exegese getrieben habe, und daß mir ein Stipendium von 400 Thalern angeboten wurde, wenn ich Theolog werden wollte, lautet sonderbar, ich vermag es indeß gleichfalls zu 10beweisen. — Nun wird es gewiß Jeder, desse[n] Inneres sich so gewaltsam und verschiedenart[ig] entwickelt hat, wenigstens nicht unnatürlich finden, daß mitunter auch einige äußerli[ch] etwas heftige Ausbrüche des jugendliche[n] Muthes zum Vorschein kamen; meine e[t]was kleinstädtischen 15Landsleute mochten oder wollten dieß jedoch nicht begreifen [;] sie beurtheilten mich nach ihrer enghe[r]zigen Kritik, und ich merkte, daß e[s] um meine Laufbahn im Lippischen g[e]than sey. Vielleicht ist es gut, daß s[ich] alles so gewendet hat; denn daß ich in einem Lande, wie meine Heimath, zu 20dem erbärmlichsten Brodgelehrten hätte versauern müssen, leidet wohl keinen Zweifel; auch flüchtete ich mich in jener Zeit, wo mich die Menschen meiner Umgebung verließen, zum erstenmal in das heitere Reich der Kunst und suchte mir Trost und Hoffnung daraus zu holen. Um aber, da es 25zu spät war wieder Schuster oder Schneider zu werden, eine Carriere einzuschlagen, welche mir eine ziemliche sichere Aussicht auf Beförderung darbot, entschloß ich mich die Jurisprudenz zu studiren, und mich dann in Preußen examiniren zu lassen. Als ich mich nun nach zweijährigem Besuche 30der leipziger Universität, welcher meinen unglücklichen Eltern den letzten Heller gekostet hatte, zur Prüfung in Berlin melde[n] wollte, suchte ich mir das nöthige Geld durch Schriftstellerei zu verschaffen und ich verfertigte das von Ihnen so gütig aufgenommene Trauerspiel. Aber kein Verleger 35wagte sich damit zu befassen, obgleich es mir in Berlin eine Menge Freunde zuzog, von deren Unterstützung ich daselbst ¾ Jahr gelebt habe. Ich dachte, daß es mir mit einem Lustspiele vielleicht besser glücken würde, und ich vollendete daher das Ihnen übersandte Stück; es hat auch in einer Gesellschaft, 40in welcher es damals vorgelesen wurde, beinahe furore gemacht; ich war indeß zu scheu geworden, es einem [GAA, Bd. V, S. 65] Verleger anzubieten, und da ich grade zu derselben Zeit den nachsichtsvollen Brief von Ihnen erhielt, so überschickte ich es Ihnen und entschloß mich Ihr Urtheil abzuwarten. Mittlerweile rückten mir aber die Noth und der Mangel immer 5näher, und ohngeachtet ich unter mehreren mir kurz vorher noch wildfremden Mensche[n] soviel Liebe fand, daß ich sie um mich weinen sah, so mochte ich doch nicht lä[n]ger von ihrer Gnade leben, und ich suchte in ein selbstständiges V[er]hältniß zu kommen. Ich erinnerte mi[ch] des Talents, 10welches von jeher als [mein] größtes angesehen worden war, un[d] meldete mich bei der berliner Bühne zum Schauspieler. Aber ohngeachtet alle meine Bekannten für mich sprachen, ohngeachtet ich verlangte, daß man mich nur aus der Thüre werfen möchte, wenn ich in irgend einer Probe nicht bestände, 15so konnte ich es auch nicht einmal dahin bringen, daß ich zu einer mündlichen Unterredung vorgelassen wurde. Nun galt es das Letzte, ich verließ vor acht Tagen Berlin und reis'te nach Leipzig, um an dem hiesigen Theater mein Glück zu versuchen. Da sitze ich nun seit vorgestern, und weiß nicht 20ob ich zu dem Dr. Küstner hingehn soll oder nicht; ich kenne hier keinen einzigen Schauspieler, falle allen in ihre Ro[l]len, kann leicht ihren Neid erregen, und es wäre mit mir zu Ende, wenn mir ihre Intriguen auch diese Hoffnung abschneiden sollten; Geld, Kleider, selbst beinah Papier und Tinte sind 25mir ausgegangen, und wenn ich mich vorstellen lassen will, so muß ich gewärtigen, daß mir wegen meines schlechten Rockes die Thür gewiesen wird. Wenn meine Buchstaben schreien könnten, so würden Ewr Wohlgeboren mir gewiß vor Mitleid bald antworten; ich rufe Sie bei allem Heiligen 30an, mir einige kurze Stunden zu widmen, und mein Lustspiel zu lesen, und mir, wenn es irgend möglich ist, in zwei Tagen darauf zu antworten; es ist keine Frechheit daß ich Sie hierum bitte, es ist Verzweiflung; vielleicht kann ich das Lustspiel, wovon Sie das einzige Manuscript besitzen, mit 35Hülfe Ihres Briefes, der deshalb wahrlich nicht günstig zu seyn braucht, da ein Brief von Tiek schon an und für sich genug ist, an einen Buchhändler verkaufen; auch versichere ich Ihnen nochmals auf meine Ehre und fodere Sie auf mich zu verlassen, wenn Sie es anders finden sollten, daß ich ein 40höchst bedeutendes Talent zum Schauspieler besitze, und ersuche Sie, mir gütigst mitzutheilen, wenn sich vielleicht in [GAA, Bd. V, S. 66] Dresden eine Aussicht für mich eröffnen sollte, — o verstoßen Sie mich nicht! Wer weiß, wo ich in acht Tagen bin, wenn ich keine Antwort von Ihnen erhalten sollte! Nur eine kurze Antwort! Sie werden es nicht bereuen mich beschützt 5zu haben, denn ich habe noch nie Feinde, sondern höchstens Neider gehabt. Verzeihung, Verzeihung, wenn ich zu kühn gewesen bin! — Stets | | Ewr Wohlgeboren | Leipzig, den 8ten | | | März, 1823. | | gehorsamster Grabbe. | (Addresse: Fleischergasse, nro. 241 bei Herrn Rost.) Nachschrift. Seit Neujahr habe ich ein ländlich-heitres Trauerspiel in 3 Akten geschrieben, und ich wage hiemit anzufragen, ob ich 15es Ihnen übersenden darf, wenn ich es erst reinlich copirt habe? Jetz[t] arbeite ich an einem streng-historischen Stücke: Sulla. — Meine Lage entschuldige alles Inconventionelle dieses Briefes! Stets 20 Ihr ergebner Grabbe. |
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