Das Christian-Dietrich-Grabbe-Portal
 
Nr. 535, siehe GAA, Bd. VI, S. 170nothumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Düsseldorf) an Karl Leberecht Immermann (Düsseldorf)
Brief

                    G. P. M.

Mit Extract und Lecture der Theatercommunicata bin ich
sicher bis spätestens morgen früh 10 Uhr zu Ende, und Sie
erhalten dann diese mir schon an sich interessanten Mittheilungen
5zurück. Und dann habe ich den Stoff erobert, aus dem
ich die Abhandl. bauen kann, und für Runkel, an den ich
schreiben will, sofort etwas von den Abhaustücken beizu abwerfen
will. Ob Ihnen die Vorstellung der Stella gefallen hat,
weiß ich nicht, denn Sie sind bei solchen Dingen äußerst delicat,
10und, da Sie selbst Alles leiten, sehen Sie die Fehler eher.
Ich aber muß sagen, ich bin freudigst überrascht worden, und,
ich wette, hätte Tieck sie gesehen, er hätte ziemlich trüb an
die Dresdner Halbheiten gedacht. Vor allem war es gut, daß
das Stück in 3 Acte zusammengezogen, und, ich meine, auch
15viel darin gekürzt war. Die Empfindeleijauche, welche es mir
kaum möglich gemacht hat, je das Original anders als unter
großen Pausen zu lesen, war in ihren gehörigen Rinnsaal
gebracht, und das echt Goethische, das Fein-Natürliche der
Charactere trat frisch hervor. Goethe hatte den Sentimentalitätston
20durch Werther verherrlicht, und da er sich oft nach
der Zeit gerichtet hat, wollte er die ossianisch-wertherdeutschhausväterliche
Stimmung benutzen, und klimperte mit
einem fünfsaitigen Drama nach — es ist seine Cabale und
Liebe, wie sein Clavigo Schillers Fiesko. Die Versing, die
25Limb., die und der Schenk, alle vier vortrefflich. Ich werde
den Beweis bald übernehmen. Selbst daß die Limbach nicht
so poetischen Flugs ist wie die Vers., nützte ihr hier nur so
mehr. Diese Rolle, wie auch Goethe unwillkührlich gewollt,
wurde von der Stern- und Mondlichtelei weggezogen und an's
30Herz gelegt. Das Publicum ward auch gespannt: es saß eine
Mamsell, oder was sie ist, vor mir, die in der Gegend immer
sitzt und sonst gern sich umsieht und parlirt. Gestern rührte
sie nicht ihr caput. Wirkt das Tüchtige erst auf Thiere, daß
sie vernünftig werden, so ist es stark — gut.

35  Düss. 26. Febr. 35.Gehorsamst

                              Grabbe.

  Verzeihen Sie die dicken Federstriche. Ob auch meine Augen
stündlich sich bessern, ich schreibe in den ersten Morgenstunden,
wo sie eben aus der Nacht kommen, doch erst hinter
40verhängtem Fenster.

[GAA, Bd. VI, S. 171]

 

 


535.

H: Doppelbl. in 40; 3 S.
F: JW Bl. 87. 88. (73.)
D: TdrO S. LXXVI—LXXVII, als Nr 26.

S. 170, Z. 8: die Vorstellung der Stella: Die durch eine Symphonie
Beethovens eingeleitete Mustervorstellung hatte am 25. Februar
stattgefunden. Die Hauptrollen waren folgendermaßen besetzt: Stella:
Mad. Lauber-Versing; Cecilie, anfangs Madame Sommer: Mad.
Limbach; Fernando: Herr Schenk; Lucie: Mad. Schenk.
S. 170, Z. 13—15: daß das Stück in 3 Acte zusmmengezogen,
und, wie ich meine, auch viel darin gekürzt war: Immermann hatte
das Schauspiel in drei Akte zusammengezogen, indem er aus dem
ersten und zweiten des Originals seinen ersten, aus dem dritten und
vierten seinen zweiten gemacht hatte. Im letzten Akte hatte er die
Erzählung von dem Grafen mit den beiden Gattinnen gestrichen.
Dadurch, so schreibt er, habe der Effekt sehr gewonnen, „da die
Stimmung durch die wenigeren Pausen mehr bei der Sache zusammengehalten
wurde“. „Der Dramaturg hatte diese Tragödie mit
großer Sorgfalt vorbereitet, eine Vorlesung, zwei Leseproben und
vier Theaterproben davon abgehalten. Ein Meisterstück war, was
die Versing lieferte; es war wirklich das von Liebe durchglühte,
durchzitterte Weib. Das Ensemble, einzig und allein das Werk Immermanns,
war vortrefflich und erinnerte an die guten Tage des
Hamburger Schauspiels. Jeder stand an seinem Platze und that redlich
und natürlich seine Pflicht; keiner suchte sich vorzudrängen und
durch Uebertreibung und Künstelei auf Effekt hinzuarbeiten. Daher
verfehlte auch die unbedeutendste Stelle ihre Wirkung nicht, und
die Zuschauer hatten in jeder Hinsicht einen reinen und unverkümmerten
Genuß.“ (Fellner S. 360—61.)