Nr. 52, siehe GAA, Bd. V, S. 52 | 16. Dezember 1822 | ![nothumbnail](/icondir/noimageavl.gif) | Christian Dietrich Grabbe (Berlin) an Ludwig Tieck (Dresden) | Brief | | | | Vorangehend: ![](/icondir/lettericon.png) | Nachfolgend: ![](/icondir/lettericon.png) |
| Hochverehrter Herr! 25 Ihr Brief, welcher mich grade an meinem Geburtstage überraschte, ist mir das schönste und wertheste Geburtstagsgeschenk, welches ich jemals erhalten habe. Das Wohlwollen und die Milde, welche daraus unverkennbar hervorleuchten, haben meinen Geist, der durch traurige innere und äußere Verhältnisse 30in die tiefste Apathie versetzt war, auf's neue beseelt. Freudig gestehe ich, daß Ihre Critik mich und mein Werk [GAA, Bd. V, S. 53] meistentheils bis in das Innerste trifft, und statt eine jämmerliche Autorenempfindlichkeit zu fühlen, bin ich vielmehr entzückt, Ihres Tadels werth gewesen zu seyn. — Die Vermuthung, daß ich noch jung bin, ist gegründet; ich zähle erst 521 Jahre, habe aber leider schon seit dem siebzehnten fast alle Höhen und Tiefen des Lebens durchgemacht und stehe seitdem still. Wenn in meinem dramatischen Versuche hin und wieder der Ton einer tiefen Verzweiflung hervorklingt, so thut mir das besonders deswegen leid, weil es aussehen möchte 10als wenn ich auf Lord Byrons Manier mit meinem Schmerze renommiren wollte, und daran habe ich doch nicht gedacht; ich will mich von jetzt an bemühen, bloß heitere Sachen zu dichten, welche mir wahrscheinlich auch besser gelingen werden, weil sie mir ferner stehen. Die Behaglichkeit, in der 15Sie selbst das herrlichste Muster sind, vermissen Sie in meinem Versuche mit großem Rechte; jedoch dichte ich auch nicht in leidenschaftlicher Bewegung, sondern besitze, was vielleicht sonderbar scheint, während des Schreibens die starrste Kälte, welche denn freilich ein schlechter Ersatz für jene freundliche, 20mild wärmende Ruhe ist. Dürfte ich Ihre liebreichen Worte: „lassen Sie uns bekannter mit einander werden“ im weiteren Sinne nehmen; so würde ich hier vor Ihnen, dem Einzigen, vor dem ich es thun möchte, mich frei und zutrauungsvoll über manchen Zwiespalt, der sich in meiner Brust zwischen 25Kunst und Leben, Verstand und Gefühl erhoben hat, näher auslassen, und ich weiß, daß es die wohlthätigsten Folgen für mich haben würde; aber es ist keine bloße Briefschreiberphrase, wenn ich sage, daß ich bei jedem Federzuge in Furcht bin, Ihren Unwillen zu erregen. — — Sollte das Lustspiel, welches 30beian liegt, die nachsichtige Meinung, welche Ewr Wohlgeboren von mir gefaßt haben, nicht verringern, so ist mir das fünfzigtausend mal lieber als die günstigsten Urtheile sämmtlicher deutschen Recensenten. Daß die Persönlichkeiten, welche in demselben vorkommen, harmlos gemeint sind, und 35daß der ganze Gang der Handlung absichtlich so lose und wunderlich aneinander gestellt ist, hoffe ich im Stücke selbst mehrmals ausgedrückt zu haben. Wenn ich Ewr Wohlgeboren versichere, daß in meiner jetzigen Lage, welche vielleicht manchen andern völlig niederdrücken würde, Ihre Briefe die einzigen 40Lichtpuncte sind, welche mich erheitern und beruhigen können, so werden Sie mir meine Bitte um baldige Antwort, [GAA, Bd. V, S. 54] wenn auch nicht gewähren, doch gewiß verzeihen. Mit der tiefsten und innigsten Verehrung verbleibe ich | | Ewr Wohlgeboren | Berlin den 16 Dec. | | gehorsamster Diener | 1822. | | Ch. D. Grabbe. | (Adresse: große Friedrichsstraße, nro 83, beim Riemermeister Kramer.) |
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