Ludwig Tieck (Dresden) an Christian Dietrich Grabbe (Berlin)
Brief
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35Dresden den 6ten Dec. 22. Zwar ist der Termin, werthgeschäzter Herr, in welchem Sie eine Antwort von mir wünschten, längst verflossen; ich hoffe aber, Sie entschuldigen das Verzögern, da nebenbei dringende Geschäfte, und zur Abwechslung Krankheit, mich
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abhielten, Ihnen zu schreiben, obgleich ich es mir täglich vornahm, und Ihr theatralisches Werk, nachdem ich es mit besondrer Theilnahme gelesen, mir auf keine Weise aus dem Gedächtniß entfallen war. Das kann auch wohl nicht geschehen, 5sollte man es auch nur flüchtig durchlaufen, ich habe es aber mit Fleiß und Aufmerksamkeit gelesen. Wie schwer mir aber grade bei diesem Producte ein eigentliches, wahres Urtheil wird, kann ich Ihnen in einem kurzen Briefe nicht eilig auseinandersetzen. Daß es sich durch seine Seltsamkeit, 10Härte, Bizarrerie und nicht selten große Gedanken, die auch mehr wie einmal kräftig ausgedrückt sind, sehr von dem gewöhnlichen Troß unserer Theaterstücke unterscheidet, darinn haben Sie vollkommen Recht. Ich bin einigemal auf Stellen gerathen, die ich groß nennen möchte, Verse in denen wahre 15Dichterkraft hervorleuchtet. Auch ist Ihr Stück so wenig süßlich sentimental, unbestimmt und andren nachgeahmt, daß es gewissermaaßen zum Erschrecken sich ganz einzeln stellt, im Entsetzlichen, Grausamen und Cynischen sich gefällt und dadurch nicht allein jene weichlichen Gefühle ironisirt, sondern 20zugleich alles Gefühl und Leben des Schauspiels, ja selbst diesen Cynismus zerstört. Hat die Weichlichkeit, die sich verhätschelnde Stimmung, eine gewisse schmachtende Melankolie, die sich nur selbst vergöttern will, vor dem ernsten Beschauer keinen Werth, so ist es gewiß erlaubt, diesen Selbstbetrug 25auch cynisch anzugreifen und der Humor hat dieß schon oft gethan. Nur muß sich dann dieser Cynismus, der alles im Menschen tief unter das Thier hinabwirft und dadurch die Lüge vernichten will, nicht selbst als die einzige und letzte Wahrheit geben: denn was er gibt und lehrt ist auch nur 30Schein, ein Bedingtes, ein an sich Unnützes und Verwerfliches: und die Wahrheit unsers Seyns, das Ächte, Göttliche, liegt in einer unsichtbaren Region, die ich so wenig mit meinen Händen aufbauen als zerstören kann 1. Ist es nicht, als wenn man, um kritisch zu zeigen, wie ein Landschaftsmahler gefehlt
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hätte, ihm ein Stück des Gemäldes abkratzen und in der Mitte die unnütze Leinwand zeigen, oder gar ein Loch hindurchschlagen wollte? 2. An diesem unpoetischen Materialismus leidet Ihr Stück auf eine schmerzliche Weise. Es zerstört 5sich dadurch selbst, und der Effekt dieser Stellen ist ganz so grell als er auf jenem zum Theil abgekratzten Gemälde seyn würde. Daran knüpfe ich die Bemerkung, daß alle jene einzelnen Stellen, die mir vorzüglich gefallen haben, alle mehr oder minder Zweifel an Gott oder Schöpfung ausdrücken, alle 10den Ton einer tiefen Verzweiflung ausklingen, und mich schließen lassen, daß Sie schon viele herbe und traurige Erfahrungen müssen gemacht haben. Sind Sie noch obenein jung (wie ich aus dem Ungestüm der Dichtung fast glauben muß) so möchte ich in Ihrem Namen erbangen, denn wenn Ihnen 15schon so früh die ächte poetische Hoffnungs- und Lebenskraft ausgegangen ist, wo Brod auf der Wanderung durch die Wüste hernehmen? Ich möchte Sie dann warnen, diesem Zerstörungsprocesse des Lebens nachzugeben, der sich Ihnen in der Maske seiner gebornen Feindinn, der Poesie, aufdringen will. — — 20Eben dadurch, daß Ihr Werk so gräßlich ist, zerstört es allen Glauben an sich und hebt sich also auf. — Stehn Sie nun in Allem bisher gesagten den dramatischen Schriftstellern unserer Tage ganz fern, so sind Sie ihnen doch in einem Puncte ganz
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nahe, ja Sie überbieten sie noch, nehmlich in der großen Unwahrscheinlichkeit der Fabel und der Unmöglichkeit der Motive. Ein Mohr, Feldherr der Finnen, geht zum feindlichen Anführer, in dessen Haus: der Held glaubt, daß der Bruder 5den Bruder ermordet habe u.s.w. u.s.w. — Hier fände ich kein Ende mit meiner Kritik. Sollte Shakspeares Tit. Andronicus und der Mohr Aaron, die Grausamkeit dieses alten Schauspiels Sie nicht verleitet haben? 3 Sie gehn aber viel weiter als der Engländer. Das Gräßliche ist nicht tragisch, wilder roher Cynismus 10ist keine Ironie, Krämpfe sind keine Kraft, sondern entstehen oft (bei Ihnen glaube ich nicht;) aus der Schwäche. Und das Resultat: Ihr Werk hat mich angezogen, sehr interessirt, abgestoßen, erschreckt und meine große Theilnahme für den 15Autor gewonnen, von dem ich überzeugt bin, daß er etwas viel Besseres liefern kann; eine Tragödie ist es auf keinen Fall, aber auch kein Schauspiel, ja nach dieser Probe zweifle ich noch, ob Ihr Talent ein dramatisches ist, da Ihnen die Ruhe und Behaglichkeit, die Fülle der Gestalten, und die 20Kraft, alle mit gleicher Liebe auszustatten, abgeht. 4
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Einmal sind Sie auch ganz weichlich. Denn es giebt auch eine weichliche gespenstische Gräßlichkeit. Ich meine jene Scene, wo der Held geschlachtet werden soll, ohnmächtig daliegt und dann entrinnt. Hier war mir (das einzigemal) 5ganz so zu Muthe, als wenn ich ein ganz modernes Gedicht lese. Dabei liegt ein Accent auf dieser Scene. Dieser Vorfall ist überhaupt fast nicht dramatisch mit Wirkung zu behandeln. 5
Ich habe mich so in das Urtheilen hineingeschrieben, als 10wenn ich mit einem Freunde etwa über ein längst gedrucktes Buch mich unterhielte 6, und ich habe lieber mich der Gefahr aussetzen wollen, mißverstanden zu werden, als unterlassen, einem talentvollen Manne, dessen Vertrauen ich achte, ebenfalls mit offenem Vertrauen entgegen zu kommen, und ohne ängstliche 15Rücksicht offen und grade das auszusprechen, was ich über seinen Versuch denke. Erfreuen Sie mich bald durch eine Antwort, zeigen Sie mir, daß Sie auch über schwache Autorenempfindlichkeit erhaben sind, lassen Sie uns bekannter mit einander werden, und glauben Sie mir, daß es mein Ernst 20ist, wenn ich sage, ich bin mit ausgezeichneter Hochachtung Tieck. (1.)Der Cynismus wollte nach der Tendenz des Verfassers sich in diesem Trauerspiele in keiner Art als das Höchste und Letzte geben; er erscheint nur stellenweise als Gegensatz der neumodischen Sentimentalität und verliert sich in der Verwickelung und Auflösung des im Stücke viel bedeutenden Wechselverhältnisses Gustavs zu seinem Vater und Berdoas zu beiden, gleich einem Tropfen in der See, der, einzeln betrachtet, weder einen großen noch angenehmen Eindruck macht, aber doch zum Wogenschlag des Ganzen nothwendig gehört. Der Verf. (2.)Die Producte der jetzigen „sich selbst verhätschelnden und vergötternden Schriftsteller“ sind keine Gemälde, sondern meistentheils nur bunt und häßlich über- färbter Cynismus; wenn man auf diesen Grundstoff hinzeigt, so kratzt man kein Stück des Gemäldes weg, sondern reinigt bloß die übertünchte Natur von einer elenden Farben-Pfuscherei, — das dient zur Warnung und ist überdem so erlaubt als billig, denn Poesie ist (auch nach Shakspeare) der Spiegel der Natur. Man bittet daher, zu bedenken, daß ein Spiegel auch die ärgerlichste Erscheinung wiedergibt, ohne sich zu beflecken. Wehe dem Verfasser, wenn er wahre Empfindungen hätte angreifen oder zertrümmern wollen. Der Verf. (3.)Nein. Der Titus Andronicus, den der Verfasser im Englischen zu einer Zeit las, wo er diese Sprache nur zur Hälfte verstand, zog ihn gar nicht an und wurde bis zur Verfertigung des Gothland nicht wieder gelesen. — Was die Unwahrscheinlichkeit der Fabel betrifft, so leidet das Stück vielleicht an Ueberhäufung, — die Möglichkeit der einzelnen Begebenheiten ist nicht überall weitläuftig motivirt, an sich aber wohl gedenkbar. Daß der Held glaubt, der Bruder habe den Bruder erschlagen, möchte sich auch aus inneren Gründen entschuldigen, wie denn in der dritten Scene des fünften Actes Berdoa dem Gothland eine Erklärung vorhält, welche hierüber und über die Construction des Ganzen, auf die überall Rücksicht zu nehmen ist, einen nicht unbedeutenden Aufschluß geben dürfte. Der Verf. (4.)Die übrigen sämmtlich nach dem Gothland geschriebenen Stücke wird das Publicum in Erwägung ziehen, bevor es hierüber eine Entscheidung, (nach welcher der Verfasser sich richten wird) abgibt. Der Verf. (5.)Das ist sehr wahr. Diese Scene, (zu welcher der Verfasser den Tod der Cäcilia indeß nicht rechnet) hat Manchem vorzüglich gefallen, sie ist aber entstanden mittelst einer Reminiscenz aus Arnims Kronwächtern. Der Verf. (6.)Das ist ein Hauptgrund, weshalb der Verfasser nun auch diesen Brief drucken läßt.
Fürstlich Lippische Regierung — Christian Gottlieb ClostermeierNr. 154, 23. Januar 1828 — Louise Clostermeier — Louise Christiane Clostermeier — Johann Karl August KestnerNr. 178, 28. März 1828