Nr. 51, siehe GAA, Bd. V, S. 48 | 06. Dezember 1822 | | Ludwig Tieck (Dresden) an Christian Dietrich Grabbe (Berlin) | Brief | | | | Vorangehend: | Nachfolgend: |
| 35 Dresden den 6ten Dec. 22. Zwar ist der Termin, werthgeschäzter Herr, in welchem Sie eine Antwort von mir wünschten, längst verflossen; ich hoffe aber, Sie entschuldigen das Verzögern, da nebenbei dringende Geschäfte, und zur Abwechslung Krankheit, mich [GAA, Bd. V, S. 49] abhielten, Ihnen zu schreiben, obgleich ich es mir täglich vornahm, und Ihr theatralisches Werk, nachdem ich es mit besondrer Theilnahme gelesen, mir auf keine Weise aus dem Gedächtniß entfallen war. Das kann auch wohl nicht geschehen, 5sollte man es auch nur flüchtig durchlaufen, ich habe es aber mit Fleiß und Aufmerksamkeit gelesen. Wie schwer mir aber grade bei diesem Producte ein eigentliches, wahres Urtheil wird, kann ich Ihnen in einem kurzen Briefe nicht eilig auseinandersetzen. Daß es sich durch seine Seltsamkeit, 10Härte, Bizarrerie und nicht selten große Gedanken, die auch mehr wie einmal kräftig ausgedrückt sind, sehr von dem gewöhnlichen Troß unserer Theaterstücke unterscheidet, darinn haben Sie vollkommen Recht. Ich bin einigemal auf Stellen gerathen, die ich groß nennen möchte, Verse in denen wahre 15Dichterkraft hervorleuchtet. Auch ist Ihr Stück so wenig süßlich sentimental, unbestimmt und andren nachgeahmt, daß es gewissermaaßen zum Erschrecken sich ganz einzeln stellt, im Entsetzlichen, Grausamen und Cynischen sich gefällt und dadurch nicht allein jene weichlichen Gefühle ironisirt, sondern 20zugleich alles Gefühl und Leben des Schauspiels, ja selbst diesen Cynismus zerstört. Hat die Weichlichkeit, die sich verhätschelnde Stimmung, eine gewisse schmachtende Melankolie, die sich nur selbst vergöttern will, vor dem ernsten Beschauer keinen Werth, so ist es gewiß erlaubt, diesen Selbstbetrug 25auch cynisch anzugreifen und der Humor hat dieß schon oft gethan. Nur muß sich dann dieser Cynismus, der alles im Menschen tief unter das Thier hinabwirft und dadurch die Lüge vernichten will, nicht selbst als die einzige und letzte Wahrheit geben: denn was er gibt und lehrt ist auch nur 30Schein, ein Bedingtes, ein an sich Unnützes und Verwerfliches: und die Wahrheit unsers Seyns, das Ächte, Göttliche, liegt in einer unsichtbaren Region, die ich so wenig mit meinen Händen aufbauen als zerstören kann 1. Ist es nicht, als wenn man, um kritisch zu zeigen, wie ein Landschaftsmahler gefehlt [GAA, Bd. V, S. 50] hätte, ihm ein Stück des Gemäldes abkratzen und in der Mitte die unnütze Leinwand zeigen, oder gar ein Loch hindurchschlagen wollte? 2. An diesem unpoetischen Materialismus leidet Ihr Stück auf eine schmerzliche Weise. Es zerstört 5sich dadurch selbst, und der Effekt dieser Stellen ist ganz so grell als er auf jenem zum Theil abgekratzten Gemälde seyn würde. Daran knüpfe ich die Bemerkung, daß alle jene einzelnen Stellen, die mir vorzüglich gefallen haben, alle mehr oder minder Zweifel an Gott oder Schöpfung ausdrücken, alle 10den Ton einer tiefen Verzweiflung ausklingen, und mich schließen lassen, daß Sie schon viele herbe und traurige Erfahrungen müssen gemacht haben. Sind Sie noch obenein jung (wie ich aus dem Ungestüm der Dichtung fast glauben muß) so möchte ich in Ihrem Namen erbangen, denn wenn Ihnen 15 schon so früh die ächte poetische Hoffnungs- und Lebenskraft ausgegangen ist, wo Brod auf der Wanderung durch die Wüste hernehmen? Ich möchte Sie dann warnen, diesem Zerstörungsprocesse des Lebens nachzugeben, der sich Ihnen in der Maske seiner gebornen Feindinn, der Poesie, aufdringen will. — — 20Eben dadurch, daß Ihr Werk so gräßlich ist, zerstört es allen Glauben an sich und hebt sich also auf. — Stehn Sie nun in Allem bisher gesagten den dramatischen Schriftstellern unserer Tage ganz fern, so sind Sie ihnen doch in einem Puncte ganz [GAA, Bd. V, S. 51] nahe, ja Sie überbieten sie noch, nehmlich in der großen Unwahrscheinlichkeit der Fabel und der Unmöglichkeit der Motive. Ein Mohr, Feldherr der Finnen, geht zum feindlichen Anführer, in dessen Haus: der Held glaubt, daß der Bruder 5den Bruder ermordet habe u.s.w. u.s.w. — Hier fände ich kein Ende mit meiner Kritik. Sollte Shakspeares Tit. Andronicus und der Mohr Aaron, die Grausamkeit dieses alten Schauspiels Sie nicht verleitet haben? 3 Sie gehn aber viel weiter als der Engländer. Das Gräßliche ist nicht tragisch, wilder roher Cynismus 10ist keine Ironie, Krämpfe sind keine Kraft, sondern entstehen oft (bei Ihnen glaube ich nicht;) aus der Schwäche. Und das Resultat: Ihr Werk hat mich angezogen, sehr interessirt, abgestoßen, erschreckt und meine große Theilnahme für den 15Autor gewonnen, von dem ich überzeugt bin, daß er etwas viel Besseres liefern kann; eine Tragödie ist es auf keinen Fall, aber auch kein Schauspiel, ja nach dieser Probe zweifle ich noch, ob Ihr Talent ein dramatisches ist, da Ihnen die Ruhe und Behaglichkeit, die Fülle der Gestalten, und die 20Kraft, alle mit gleicher Liebe auszustatten, abgeht. 4 [GAA, Bd. V, S. 52] Einmal sind Sie auch ganz weichlich. Denn es giebt auch eine weichliche gespenstische Gräßlichkeit. Ich meine jene Scene, wo der Held geschlachtet werden soll, ohnmächtig daliegt und dann entrinnt. Hier war mir (das einzigemal) 5ganz so zu Muthe, als wenn ich ein ganz modernes Gedicht lese. Dabei liegt ein Accent auf dieser Scene. Dieser Vorfall ist überhaupt fast nicht dramatisch mit Wirkung zu behandeln. 5 Ich habe mich so in das Urtheilen hineingeschrieben, als 10wenn ich mit einem Freunde etwa über ein längst gedrucktes Buch mich unterhielte 6, und ich habe lieber mich der Gefahr aussetzen wollen, mißverstanden zu werden, als unterlassen, einem talentvollen Manne, dessen Vertrauen ich achte, ebenfalls mit offenem Vertrauen entgegen zu kommen, und ohne ängstliche 15Rücksicht offen und grade das auszusprechen, was ich über seinen Versuch denke. Erfreuen Sie mich bald durch eine Antwort, zeigen Sie mir, daß Sie auch über schwache Autorenempfindlichkeit erhaben sind, lassen Sie uns bekannter mit einander werden, und glauben Sie mir, daß es mein Ernst 20ist, wenn ich sage, ich bin mit ausgezeichneter Hochachtung Tieck.(1.) (2.) (3.) (4.) (5.) (6.) |
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51.
H: Das Original des Tieck'schen Briefes ist nicht bekannt. Die
Anmerkungen und das Nachwort Grabbes: 2 Doppelbl. in 40. Die
Anmerkungen von Schreiberhand, mit zahlreichen eigenhändigen
Korrekturen; das Nachwort aus Grabbes Brief an Kettembeil vom
12. Aug. 1827 (Nr 131) in der Verlagsbuchhandlung übertragen.
F: GrA
K: 3 Doppelbl. in 40, geheftet; 12 S. Von Grabbes Hand.
D: Dramatische Dichtungen von Grabbe. Bd 1. Frankfurt am Main,
Hermannsche Buchhandlung 1827. S. IX—XV.
S. 49, Z. 15: Ihr] ihr K
S. 50, Z. 4: Ihr] ihr K
S. 50, Z. 11: Sie] sie K
S. 50, Z. 18: Ihnen] ihnen K
S. 50, Z. 26: macht,] macht K
S. 51, Z. 1: Sie] sie K
S. 51, Z. 18: Sie] sie K
S. 52, Z. 10: ein] ein ein K
S. 52, Z. 33: Cäcilia] Cäcilie K
Auf die sechste Anmerkung folgt in K, vor der Übertragung der
endgültigen Schlußbemerkung, folgende gänzlich getilgte Fassung.
Zunächst von der Hand des Schreibers:
[Bd. b5, S. 439]
Schließlich versichert man, daß diese Anmerkungen zu dem geehrten
Schreiben L. Tieks keine Widerlegungen, [danach aRl von Grabbes
Hand eingefügt (Das Werk muß sich selbst rechtfertigen —), Gedankenstrich,
Klammer und Komma gestrichen und hinzugesetzt oder
entschuldigen — )] sondern fast [dieses Wort von Grabbes Hand
üdZ eingefügt] nur Anzeige [zuerst Anzeigen daraus Anzeige]
einiger [zuerst der dies gestr. aRl von Grabbes Hand einiger eingefügt
] Ideen seyn sollen, welche den Verfasser bey Ausführung
seines Werkes leiteten.
Verfasser
[Diese beiden Worte gestrichen und von Grabbes Hand nach leiteten.
ein Gedankenstrich gesetzt und fortgefahren:] Der Gothland wird
übrigens bei einer gehörigen Umarbeitung schon wegen seiner Contraste
ein wirksames Theaterstück bilden können.
Verfasser.
Die Anmerkungen Grabbes sind beim Text des Tieckschen Briefes
belassen worden, weil sie als eine Art Antwort auf diesen anzusehen
sind. Das Nachwort Grabbes ist daselbst nicht mitgeteilt, da es sich
in dem erwähnten Briefe an Kettembeil findet.
S. 52, Z. 35: Reminiscenz aus Arnims Kronwächtern: Gemeint ist
wohl die achte Geschichte des zweiten Buchs („Das Hausmärchen“),
und zwar Partien des zweiten und dritten Bildes.