Nr. 129, siehe GAA, Bd. V, S. 171 | 03. August 1827 | | Christian Dietrich Grabbe (Detmold) an Georg Ferdinand Kettembeil (Frankfurt a. M.) | Brief | | | | Vorangehend: | Nachfolgend: |
| 35 Bester Freund, so Mancher hat es mir gesagt, ich wäre eigentlich ein Poet, aber auf Ehre (nr. 200) ich spreche lieber mit Dir von unseren übrigen Erinnerungen und Verhältnissen als von der Poesie. [GAA, Bd. V, S. 172] Sie ist eine Art von Handwerk, wenigstens bei mir. Deinen Brief vom 28st Juli erhielt ich zu meiner Freude; Freude ist hier selten, wird auch bei uns nicht so theuer bezahlt als eine gestohlene Forelle. Fressen und sich freuen ist bei 5uns einerlei. Trinken? wozu? Die Leute haben keinen Verstand, sie brauchen ihn nicht zu versaufen. Wenn sie trinken, so werden sie klug, id est grob (gegen sich, nicht wider mich). Ich glaube, es war eine nette Zeit als wir nach Charlottenburg fuhren. Herr Lasky (der Jenenser Student in Leipzig, 10der beim Thomasbecker saß und so schnell bei den Kaufleuten borgen wollte) ist aus der Burschen welt in die Griechen welt, von da in die Köpf welt gegangen, nämlich vor dem Serail auf einer Lanze aufgepflanzt. Mein Gott, welche Lebenserfahrung müßte es geben, wenn man sich hinter 15dem Köpfen besinnen könnte. Ist man es gewohnt, so hat man es überstanden. Ich will ein Politiker werden, will ein Buch über die Gefahr, welche uns von Rußland droht und über die Mittel sie zu hemmen, schreiben. Auch will ich „eine Giftpflanze, gewachsen im Boden der Pandekten“ ediren, 20nämlich das Erbschaftsrecht. Eintrocknen brauche ich sie nicht, weil sie schon trocken genug ist. Hieße es nicht bei uns Juristen „ewiger (sc. trockener) Sommer, ewige Ernte“ (sc Geldernte) wo wäre L.[ex] 7 de V.[erborum] S.[ignificatione]? Und — (das „und“ ist eine schwebende Brücke über Abgründe, 25die der Stylist nicht ausfüllen kann) — ich will doch lieber Jurist in Detmold als Poet in Dresden seyn. Zu unsren Geschäften. 1) Die cartonnirten Exemplare auf Velinpapier betreffend. Damit mach Dir nicht zu viel Mühe. Ich wünschte höchstens ein einziges, nämlich, um es dem 30hiesigen Fürsten zu präsentiren. Ein Exemplar auf gewöhnlichem Papier reichte vielleicht auch aus. 2) Die Proben in den Journalen. Die Idee darüber entstand wohl vorzüglich dadurch, daß, da meine Werke in 2 Theilen gedruckt werden sollten, wir wo möglich auf andere Weise den durch diese 35Zerstückelung gefährdeten Gesammteffect retten mußten. Du willst aber beide Theile zugleich verschicken lassen (keinen ja früher als den anderen!!), also ist der Gesammteffect gerettet. Der Journale bedürfen wir nicht, und ex.[empli] gr.[atia] der Gothland ist viel zu verwickelt, um nicht, indem 40wir eine Scene vorlegen, den Mißgriff jenes Griechen zu thun, der einen Ziegel als Probe seines Hauses darzeigte. Deine [GAA, Bd. V, S. 173] ausgewählten Scenen des Gothland passen sonst zum Zweck, sie sind zwar nicht die besten und sollen es nicht seyn, aber sie gehen doch drauf los. Fast möchte ich (wenn ich überhaupt dafür wäre) rathen einige Stellen des Gothland 5nur einrücken zu lassen: z. B. das Gespräch mit Berdoa im 4t Act von den Worten: „eine sternhelle Luft“ bis „o des Wahnwitzes“ oder gar bis „jetzt o jetzt“., und dann im selben Act die ganze Stelle, wo Gothland unter Sternschnuppen und Nordlicht durch das Schneefeld stürzt. — Abendzeitung 10oder Morgenblatt wäre einerlei, aber ich bitte, si possible, laß in meinem Lustspiel die Anspielungen auf Abendzeitung ect und die literarischen Witze nicht aus; ich versichere, daß ich grade die am meisten beleidigten Leute an der Nase ziehen werde, mittelst einiger Sendschreiben. — 15Rattengifts Dicht- und des Teufels Hufeisen-Scene sind gut gewählt. — Aus Nannette ist die leichteste Wahl: die vorletzte und letzte Scene des 2t Actes z. B. oder gleich die erste Scene des 1st Actes. Glaub', Nannette macht leicht Glück. Aus Sulla die 1ste oder die 2te Scene des 2t Actes. 20Die Schlachtscene ist wohl zu skizzenhaft und wirkt nur im Ganzen. — Alles dieß ist nur in eventum gesagt, denn offenherzig, ich bin gegen diese stückweise Ankündigung. 3) Ankündigung? Sobald Du das Buch versendest mußt Du eine an die Meiersche Buchhandlung in Lemgo schicken, wo 25möglich gleich gedruckt, damit sie sie dem „Intelligenz-Blatte “ (so heißt unser Lippisches Journal!) beilegen. Sie würde heißen: „In der Hermannschen Buchh. in Frkf. a. M. sind erschienen und bei uns zu haben: Dramatische pp pp. Diese Dichtungen bedürfen keiner gewöhnlichen Buchhändleranzeige; 30sie werden sich den Beifall selbst erringen. Nur das darf man behaupten, ohne zu fürchten, der Leser werde uns einer Täuschung beschuldigen: es regt sich in diesen verschiedenen tragischen, komischen, sentimentalen, und historischen Dramen, ein äußerst gewaltiger, vielseitiger Genius, 35und dabei von einer Selbstständigkeit und Eigenthümlichkeit, wie sie schwerlich in neueren Zeiten gefunden werden. Das beigedruckte Urtheil eines großen Dichters wird dieses schon allein bei der voranstehenden Tragödie rechtfertigen. Auch der Aufsatz über die zur Mode gewordene Bewunderung des 40Shakspeare verräth gewiß eben so viel kritisches tiefblickendes Talent als Kenntniß der älteren und neueren Bühne.“. — [GAA, Bd. V, S. 174] Diese Ankündigung (in der ich mir die Selbstschmeichelei pto necessitatis zu verzeihen bitte) wäre bei uns und anderwärts zu gebrauchen. 4) Kodon. Die Idee mit Althing ist gut, jedoch, da Althing in der Masse des Publici 5immer etwas obscur, auch schon veraltet ist, so rathe ich, den Molfells dem Schulmeister die Memoiren von Jacob Seingalt de Casanova geben zu lassen: „Da, für die gute Nachricht pp ein Exemplar der Memoiren von Jacob Seingalt de Casanova, in Maroquin gebunden, und dennoch ungebunden. 10 Ich kaufte es von einem Juden pp. Schulmei- ster: Memoiren von Jacob Seingalt de Casanova? Dieses Napoleons der Unzucht? Dieses Generals der sieghaftesten Niederlagen? Was soll pp pp pp gehörig zu „„studiren““ wissen. “ — Die Scene mit Gretchen: „Guten pp den Jacob Seingalt 15de Casanova an den Kopf pp Schulmeister (indem er die einzelnen Bände des Werkes aufhebt) Hm, Hm, kann Madam diese Bücher also nicht zur Belehrung oder zum Studio in der Küche gebrauchen? Gretchen. Ach pp Daß solche Waare nicht zum Studio in der Küche gemacht ist pp. 20Man fiele in's Feuer! Madam ist pp pp Schulm. Hm, Hm, hier sind aber nur drei Bände und ich hatte der Madam doch vier überschickt pp“ — Die Scene mit dem Schmidt macht sich von selbst, nur bemerke ich, daß überall, wo Du Casanova hinsetzen willst, Du dieß des Effectes wegen mit seinem vollen 25Namen „Jacob Seingalt de pp. thun müßtest. — Scene wo der Teufel gefangen wird: „Schulm. Die Sonne pp pp und ich müßte mich sehr irren, wenn ihn nicht die magische Einwirkung von 3 Theilen des Jacob Seingalt de Casanova, herausgegeben von Wilhelm von Schütz, hieher locken sollte. Zur 30Sicherheit aber verstärke ich den Effect mit weil. Althings hinterlassenen Schriften und lege sie auf den Casanova wie schlechten Pfeffer auf Schweineschinken (Er setzt pp legt den Casanova und Althings hinterlassene Schriften pp)“ Nachher der Teufel: „Ich rieche hier zweierlei: links etwas Abscheuliches, 35Zuchtloses, rechts etwas Versoffenes, die Kinder Züchtigendes pp.“ Und zuletzt Schulm.: „mit Speck fängt man Mäuse, mit Casanova und Althing den Teufel“ p. Somit hättest Du Deinen Althing, ich meinen Casanova in uno. Das übrige änderst Du selbst. Bist Du aber nicht mit meiner Idee 40zufrieden, so genire Dich nicht, sondern führe die Deinige aus. 5) Die Notiz wegen der Abänderungen. Ich glaube, daß [GAA, Bd. V, S. 175] Du hinter die Vorrede setzen mußt, etwa so: „Anzeige des Verlegers. Des großen Publici wegen mußte bei dem Druck nachstehender Werke sehr Vieles verändert, ja gestrichen werden. Da der Verfasser erklärte, er selbst würde 5wegen dieser Veränderungen keine Hand anlegen, wolle mir aber, da er in seine Producte nicht verliebt sey, unbedingte Gewalt geben, in dieser Hinsicht das Nöthige zu besorgen, so mußte ich mich dem Geschäfte unterziehen. Manche bedeutungsvolle Stelle mußte leiser ausgedrückt werden, manche 10mußte ganz wegfallen, hier und da waren im gedruckten Buche Schwächen und Dunkelheiten grade an Orten nicht zu vermeiden, wo das Manuscript kräftig und höchst klar ist. Beides gilt vorzüglich von dem Gothland und von dem Lustspiel.“ — Ich weiß, Du fühlst Dich nicht beleidigt, 15wenn ich Dir den Ausspruch, Du hättest manche Dunkelheit oder Schwächung nicht vermeiden können (ich hätte und habe es ja auch nicht gekonnt!) in den Mund lege; die Sache thut vielleicht ihre Wirkung. 6) Der Aufsatz „über die modische Bewunderung des Shakspeare“ oder über die Shakspearo 20-Manie, wird schon in Frankfurt seyn. Was meinst Du von ihm? Er ist schnell geschrieben, konnte auch nicht über den ganzen Shakspeare erschöpfend seyn (wer weiß, was wir mal thun), aber da ich den Hrn. Shakspeare und die Hrn. Poeten recht gut kenne, so glaube ich doch, es steckt 25etwas darin, und was mehr ist, er paßt in die Zeit, also laß ihn hinterdrucken. Mancher kauft die Stücke, um über den lieben Shakspeare etwas zu hören. Und jetzt athme ich wieder, und rede von allerlei, queer durcheinander. Meine Speculation pto des hiesigen Theaters 30ist nicht ohne, und da mit oder vor Michael bei der Rückkunft des Fürsten der Lärm recht losgeht, so freut es mich äußerst, daß Du schon in 2 Monaten den Druck geendigt zu haben und zu versenden gedenkst. Ich stehe hier so, daß ich nützliche Sprünge machen kann. Dem „Creuzer“ in Heidelberg 35habe ich mit Willen eins in der Shakspearomanie abgegeben. Heute ist ein schöner Tag, und wie die Karpfen im Sonnenschein mit blauen Rücken aus dem Wasser ragen, liegen die blauen Berge in der Ferne. Selbstrecensionen sind auch ersprießlich. Preußen hat 7 Jahre gesiegt (1756—63) 40und 7 Jahre gelitten (1806—13). In dem 7jährigen Leiden hat es mehr gewonnen als im 7jährigen Siege. Künstlern und [GAA, Bd. V, S. 176] Helden (beides ist eins, denn der Krieg im Großen ist eine Kunst) geht's wie der Perlmuschel; aus Qual werden Perlen. Der König von Sachsen ist ja auch todt, er mit der hohen Stirn, auf welcher die Läuse (wenn er welche gehabt hätte) 5schwindlich geworden wären, wie Edgar im Lear an den Kreidefelsen von Dover. Ich müßte lachen, wenn die Hrn. Politiker in den Türken den schlafenden Löwen geweckt hätten. Ist Europa eine Jungfrau, so ist es Schade um sie, denn statt eines weißen Flusses hat sie ein weißes Meer, 10und wo ohngefähr die Hintertheile ruhen, fluthet das schwarze Meer. Deutschland ist das Herz, ach Gott ja, es ist zerrissen, wie nur ein Herz seyn kann! Italien sieht aus, wie ein bestiefelter Fuß, deshalb traten die Römer mit ihm der Welt auf den Kopf. Die Griechen sind Narren, wenn 15sie sich helfen lassen. Wer sich selbst nicht befreien kann, verdient keine Freiheit und bewahrt sie nicht. Die Menge ist ein Hund, je mehr Prügel, je folgsamer. Wer sich selber nicht imponirt, der imponirt anderen. Ich lerne Musik. Theaterrecensionen sollte man so schreiben, daß man die Urtheile 20den Geistern der dargestellten Personen in den Mund legte. Was würde der Wallenstein über Herrn Anschütz sagen? Die Nordamerikaner sind um Rivinus reicher geworden. Die Franzosen sitzen in Spanien, wie die Maus in der Falle. Ich lese seit Jahren die Frankfurter Zeitung, früher redigirte 25sie Krapp (Grabb —), jetzt ein Hr. Oehlers, was ist das für ein Mann? Höpfner in Leipzig, — Du schriebst mir, Du hättest ihn gesprochen, — was ist er? Gewiß Magister? — Und nun, schreib' bald, ich bitte, — und glaube, daß ich bin Dein alter unedelmüthiger Freund Grabbe. 30Detmold den 3t Aug. 1827. [Adresse:] Sr Wohlgeboren dem Herrn Buchhändler Kettembeil (Hermannsche Buchhandlung) in Frankfurt am Main. Frei. |
| |