Nr. 125, siehe GAA, Bd. V, S. 157 | 01. Juni 1827 | ![thumbnail](/Grabbe/Faksimiles/Briefe/small/G05B0125_01small.jpg) | Christian Dietrich Grabbe (Detmold) an Georg Ferdinand Kettembeil (Frankfurt a. M.) | Brief | | | | Vorangehend: ![](/icondir/lettericon.png) | Nachfolgend: ![](/icondir/lettericon.png) |
| 20 Freund Kettembeil, anbei der Tiefsinn, ausstaffirt mit Vorwörtern. Das schlechte Aeußere, in specie die vielen Correcturen der Vorreden, bitte ich zu verzeihen. Hoffentlich ist alles zu lesen. Und nun? Ich glaube, die Stücke sind unter sich gut geordnet 25— (ich habe sie nach der Reihenfolge mit lateinischen Nummern versehen,) — die ziemlich unschuldige „Nannette“ als nr. I im Drucke voran, denn mindestens in den beiden ersten Aufzügen (hier nicht Acten) wird sie den überwiegenden Theil deutscher Belletristen (deren poetisches Talent 30in Verlieberei besteht) für sich gewinnen. Du kannst dieß selbst an einem Verliebten probiren. Die Nannette ist der Köder, hat der Fisch (nach dem vielen Wasser, welches von den Poeten und Kritikastern fließt, sollte man sie in der That für Fische oder für etwas noch Schlimmeres halten) ihn 35angebissen und im Halse stecken, so hängt er an der Spitze der Angel um so sicherer, — diese vorderste Spitze ist der Mr. Gothland sub nr. II. Vor demselben stehe der Brief von Tieck, der flößt den guten Leuten Achtung und Bedenken [GAA, Bd. V, S. 158] ein, und pto seiner schlimmen Aeußerungen, (die mir sehr angenehm sind, weil sie das dabei gespendete Lob nebst Erschrecken, Verwunderung pp um so unparteiischer machen) bin ich klug genug bei denselben à la Müllner hinter der culpa 5lata (Schuld) einige ersprießliche Bemerkungen gemacht zu haben, die ich bei dem Druck gern in der gewöhnlichen Art unter den Text des Briefes gesetzt sähe. Nun ist's ein Spaß, daß die 2 ersten Acte des Gothland (die dritten Personen oft die besten, mir die unbedeutendsten scheinen) grade die mildesten 10 sind, aber von Mitte des dritten Actes, wenn der Wolf sich schon auf den Spieß gefressen hat, muß derselbe vorwärts, er mag nun schimpfen oder brüllen oder sich entsetzen oder bewundern. Immer gibt's ein Aufsehen. — Dem Gothland folgt das Lustspiel, zwar aus den nämlichen Grundansichten 15entsprungen, aber in der äußeren toll-komischen Erscheinung ein vollkommener Contrast des so tragischen Gothlands. Contraste wirken auf dumme Leute am ersten, die Kinder malen Schwarz neben Weiß, — nun sind die meisten Menschen dumm, also pp. Fehlt auch alles, imponiren 20 müssen wir. — Den Schluß macht Sulla, noch nicht vollendet; er darf aber nach meiner klaren Überzeugung nicht fehlen, besonders da er zeigt, daß der autor (nicht autor) sich vielleicht auf historischen Blick versteht, und beizu auch in jener früheren Zeit (v. die Vorrede) schon 25Volksscenen individualisirt à la Shakespeare (v. Sulla und Marius, 2t Act) schildern konnte, welches angebliche Talent ziemlich rar ist und sich aus Verfassers übrigen Stücken nicht spüren läßt. Das Fragment hat Tollheiten und gewaltige Stellen genug, um sich produciren zu können. Es ist nicht 30der Sulla, den Du in Leipzig hörtest, sondern ein in Hannover umgearbeitetes Stück. — Übrigens veranlaßt es auch zur Frage, ob es fortzusetzen sey, — da muß Antwort kommen, und ich bin endlich klug genug geworden, nie anders zu fragen (zu harpuniren) als wenn ich eine nießnutzende Antwort 35(einen Wallfisch) spritzend angezogen kommen sehe. — Eine Saite hat wenigstens jeder Gebildete, welche bei Lecture meiner 4 Thiere (dear, Theure, vi, Vieh, Vieh-(loso-)Vieh) anschlägt. — Der Köchy, er, der lange (wie ich brieflich beweisen kann) verzagt war, weil er ganz ohne Grund glaubte, ich hielte 40ihn nicht für poetisch genug, läßt Dramen in Breslau und Cassel aufführen? — Wie! tausend Teufel! ich speie in die sogenannte [GAA, Bd. V, S. 159] Poesie! ich halte das Herz für eine in das unrechte Loch gelaufene Billard-Kugel! ich bin, wenn ich eitel bin, eher auf alles andere eitel als auf meine früheren Poesie-Producte, — ich fühle, sie jetzt weit überflügeln zu können, 5aber, bei meinem Mephisto, sollte ich mich irren, oder haben meine Dir überschickten Dramen nicht mehr Kern, Feuer pp als die Eseleien der sämmtlichen heurigen Dramatiker? Diese letzteren Herrn sind fein, oft regelrecht (wie die Ignoranten nach Maaßgabe ihrer Kritik meinen) — aber das auch zu 10werden, ist mir jetzt wahre Kleinigkeit, — machen die Herren nur erst Bilder, Gedanken, Pläne, Entwürfe, verschiedene Charactere, wie ich sie vor 5 Jahren machte. Dieß ist keine Prahlerei, — wollt' ich mir jetzt auf Poesie etwas einbilden, das wäre als wenn ein Schmidt sich damit rühmte, 15daß er sich für einen tailleur ausgäbe, — in einer Sache die mir innerlich schon lange jetzt auch der äußeren Lage nach nicht relevant war, kann ich wohl ohne Verdacht der Selbstschmeichelei sprechen. — Die Vorworte! (Vor wörter dem Sinne nach? Nein!) — 20Glaub' mir, sie schützen, sie helfen. Tieck's Brief gleichfalls. Manches kann stehen bleiben, weil die Vorreden davor stehen. Bei Betrachtung der Total-Vorrede und der den Stükken II, III, IV speciell vorgesetzten Notizen, wirst Du finden, daß ich ex officio die Hessen-Darmstädtische Militair-Zeitung 25lese, und je höher schieße, je niedriger ich in der Ferne treffen will. Meine Vorreden sind so trocken, daß sie vielleicht manche Stelle der Stücke retten. Ich kann übrigens nicht nähen und mein Copist hat fast noch mehr zu scribeln als ich, — hefte Du die losen (losliegenden) Vorworte mit einer Stecknadel 30an den resp. Stellen fest, — sie fallen sonst heraus. Und nun, da ich einmal die Pastete überschicke, so rathe ich auch, laß drucken. Lärm gibt's! Abgang auch! Die Inmoralität übernehme ich oder das „Ganze der Composition!“ Hier zu Lande allein wird man eine Masse Exemplare kaufen 35(einer meiner Landsleute, ein reicher Kaufmann, ist jetzt in Frankfurt beim Prof. Herling, — er kennt mich, und willst Du Dir einen Spaß machen, so besuch ihn in meinem Namen und bring' ihn auf mich — sprich aber nicht von früheren Verhältnissen, — er heißt Meyer) —, die Berliner Clique, 40aus denen sich soviele Schriftsteller entwickeln, obgleich bei der dürren Hitze sonst wenige Würmer hervorkriechen, wird [GAA, Bd. V, S. 160] rasend werden. — Mon dieu, ich hätte gern noch einmal die Welt zum Narren, und Du hast mir die Lust geweckt, auch läge ich gern einmal 1 Jahr in Paris, — ich versichere Dich (oder Dir), ich habe einen Roman unter der Faust gehabt, der 5umfassender wie meine 4 Stücke zusammen ist, — ich habe ihn, wie so vieles liegen lassen, — Journal- Bücher- Kritik-Theater - Musik-Ideen, Politik, Geographie, Jurisprudenz durchkreutzen mich, — manches ist schwarz auf weiß (welche Farbe Preußen wegen seiner schlechten Schriftsteller angenommen) 10— aber ich will ewig verflucht seyn (möchte ich ausrufen), wenn ich eher etwas drucken lasse als bis ich durch den Druck des früheren Zeuges so weit gekommen bin, daß man mir entgegen kommt. Toll will ich eintreten und vernünftig enden. Wirst Du aber wirklich mein erster Verleger, 15so sollst Du auch mein steter Verleger bleiben, und Einfluß auf meine Arbeiten haben. Neulich nicht, aber jetzt bitte ich um baldige Antwort . Streich', arbeite in den übersandten Stücken wie Du willst, — ich weiß, Du bist mäßig, wärest Du es aber auch 20nicht, — tout egal. Wo möglich laß die Angriffe auf die Schriftsteller stehen, denn Persönlichkeiten ziehen an, und die Herren sind theils unbedeutend, theils hilft auch bei ihnen das Vorwort, — ich habe oft durch Grobheit Liebe oder doch Furcht gewonnen. 25 Jetzt schließ' ich: sat prata. Merkwürdig, daß wir auf einmal so wieder an einander gekommen. Du stehst vor mir. Sollen wir heute nach Charlottenburg fahren? — Apropos! Heine's Reisebilder? Habe vom 1sten Theile gehört, und zwar mittelst alter Göttinger. Schreibt Heine erst Reisen, so heißt 30das: seine productive Kraft ist aus und er flüchtet zum Erzählen von Begebenheiten. Aber auch das wird ihm Schweiß gekostet haben. Einiger oder viel Witz, der jedoch gepreßt erscheinen möchte, wird auch darin seyn, — die Gedichte sind aber gewiß höchst erbärmlich, eben weil der Poeten-Jude 35Reisen schreibt. Alter Kettembeil, trink' ein Glas Rheinwein zu meinem Gedenken, und gedenke dabei, daß jedes Glas Rheinwein mein Blut ist oder mich doch so anzieht oder so auf mich wirkt wie mein Blut, — erheitere mich bald mit einer Antwort, 40genieß das Leben, betrachte das Heirathen als eine Speculation, das Kinderzeugen als ein nothwendiges Übel, die Menschen [GAA, Bd. V, S. 161] als erste vom Dampf getriebene Maschinen, das Leben als ein Mittel zum Vergnügen, und mich alsDeinen Detmold den 1st Juni | | Grabbe. | 1827. | | | 5 [Adresse:] An die J. C. Hermann'sche Buchhandlung in Frankfurt am Main. Mit einem Paquet gezeichnet G. Frankfurt A./M. Frei. |
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125.
H: 1 Doppelbl., 1 Bl. in 40; 4⅓ S., Adresse auf S. 6.
Auf S. 6: Vermerk des Empfängers: 1827 Grabbe in Detmold den
[Bd. b5, S. 514]
1. Juni. Abgangsstempel: DETTMOLD 8/6
F: GrA
T: Salon S. 186—88, als Nr II.
D: WBl IV 385—89, als Nr 3.
S. 157, Z. 26: Nummern] Numern H
S. 158, Z. 25: individualisirt] indivialisirt H
S. 159, Z. 37: meinem] meinen H
S. 157, Z. 22: in specie: insonderheit.
S. 158, Z. 4 f.: à la Müllner hinter der [...] (Schuld): Deren
Anhang bildet eine „Beilage. Beurtheilung des Stücks und seiner
Aufführung in Wien [am 27. April 1813] aus der Zeitschrift Thalia
[Nr 68, 69 und 71 vom Jahre 1813], mit Anmerkungen des Verfassers.
“ (In der 1. Aufl. S. 205—50.) — culpa lata: grobe Fahrlässigkeit.
S. 158, Z. 38—41: Der Köchy [...] läßt Dramen in Breslau und
Cassel aufführen: Nachweisbar ist für das Jahr 1827 nur die Aufführung
des fünfaktigen Schauspiels „Der Schmuck oder die Kinder
des Hauses“ (nach Friedrich Schillers Entwurf); sie hat am 23. Okt.
in Hamburg stattgefunden.
S. 159, Z. 17: relevant: erheblich.
S. 159, Z. 35—38: einer meiner Landsleute, ein reicher Kaufmann
[usw.]: Heinrich Conrad Ernst Meyer, geb. zu Detmold am 17.
März 1796 als der Sohn des aus dem Braunschweigischen gebürtigen
Bürgers und Kaufmanns Heinrich Conrad M. Dieser hatte sich am
2. Juni 1795 mit Cathrine Elisabeth Herling, geb. Lüpke oder
Lübbecke, aus Lemgo verheiratet, der Witwe des am 13. März
desselben Jahres in einem Alter von 50 Jahren und acht Monaten
an der Schwindsucht verstorbenen Bürgers und Branntweinbrenners
Hermann Heinrich Wilhelm H. in Detmold. Aus dieser, am 19. Okt.
1779 in Lemgo geschlossenen Ehe stammte Simon Henrich Adolph
H., der mithin ein Stiefbruder Heinrich Conrad Ernst Meyers war.
S. 159, Z. 36: beim Prof. Herling: Simon Heinrich Adolf H.,
geb. am 13. Okt. 1780 zu Detmold als Sohn eines Kaufmanns,
hatte vom April 1801 an in Göttingen Theologie studiert und war
seit 1809 Lehrer am Gymnasium in Frankfurt am Main, auch eines
der tätigsten Mitglieder des 1817 gegründeten Frankfurter Gelehrtenvereins
für deutsche Sprache. Seine Lehrbücher haben insbesondere
die Syntax der deutschen Sprache und die Stilistik zum Gegenstande.
Während seines Frankfurter Aufenthaltes hat ihn Grabbe aufgesucht.
Gestorben ist H. am 1. April 1849 zu Frankfurt.
S. 160, Z. 4—6: ich habe einen Roman unter der Faust gehabt
[usw.]: Von diesem ist nichts bekannt.
S. 160, Z. 25: sat prata: Aus Vergils Eclogae 3,111: Claudite
iam rivos, pueri; sat prata biberunt (Schließt nun die Rinnen, ihr
Knechte! genugsam getränkt sind die Wiesen).
S. 160, Z. 28: Heine's Reisebilder: Der erste Teil (die „Harzreise“)
war 1826 bei Hoffmann und Campe in Hamburg erschienen; der
zweite lag seit April 1827 vor. Dieser enthielt die zweite und
dritte Abteilung der „Nordsee“, „Ideen. Das Buch Le Grand“ und
die „Briefe aus Berlin“.
[Bd. b5, S. 515]