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Nr. 125, siehe GAA, Bd. V, S. 157thumbnail
Christian Dietrich Grabbe (Detmold) an Georg Ferdinand Kettembeil (Frankfurt a. M.)
Brief

20        Handschrift Freund Kettembeil,

  anbei der Tiefsinn, ausstaffirt mit Vorwörtern. Das
schlechte Aeußere, in specie die vielen Correcturen der Vorreden,
bitte ich zu verzeihen. Hoffentlich ist alles zu lesen.

  Und nun? Ich glaube, die Stücke sind unter sich gut geordnet
25— (ich habe sie nach der Reihenfolge mit lateinischen
Nummern versehen,) — die ziemlich unschuldige „Nannette“
als nr. I im Drucke voran, denn mindestens in den beiden
ersten Aufzügen (hier nicht Acten) wird sie den überwiegenden
Theil deutscher Belletristen (deren poetisches Talent
30in Verlieberei besteht) für sich gewinnen. Du kannst
dieß selbst an einem Verliebten probiren. Die Nannette ist
der Köder, hat der Fisch (nach dem vielen Wasser, welches
von den Poeten und Kritikastern fließt, sollte man sie in der
That für Fische oder für etwas noch Schlimmeres halten) ihn
35angebissen und im Halse stecken, so hängt er an der Spitze
der Angel um so sicherer, — diese vorderste Spitze ist
der Mr. Gothland sub nr. II. Vor demselben stehe der Brief
von Tieck, der flößt den guten Leuten Achtung und Bedenken

[GAA, Bd. V, S. 158]

 


ein, und pto seiner schlimmen Aeußerungen, (die mir sehr
angenehm sind, weil sie das dabei gespendete Lob nebst Erschrecken,
Verwunderung pp um so unparteiischer machen) bin
ich klug genug bei denselben à la Müllner hinter der culpa
5lata (Schuld) einige ersprießliche Bemerkungen gemacht zu
haben, die ich bei dem Druck gern in der gewöhnlichen Art
unter den Text des Briefes gesetzt sähe. Nun ist's ein Spaß,
daß die 2 ersten Acte des Gothland (die dritten Personen oft
die besten, mir die unbedeutendsten scheinen) grade die mildesten
10 sind, aber von Mitte des dritten Actes, wenn der
Wolf sich schon auf den Spieß gefressen hat, muß derselbe
vorwärts, er mag nun schimpfen oder brüllen oder sich entsetzen
oder bewundern. Immer gibt's ein Aufsehen. — Dem
Gothland folgt das Lustspiel, zwar Handschrift aus den nämlichen Grundansichten
15entsprungen, aber in der äußeren toll-komischen Erscheinung
ein vollkommener Contrast des so tragischen
Gothlands. Contraste wirken auf dumme Leute am ersten,
die Kinder malen Schwarz neben Weiß, — nun sind die
meisten Menschen dumm, also pp. Fehlt auch alles, imponiren
20 müssen wir. — Den Schluß macht Sulla, noch nicht
vollendet; er darf aber nach meiner klaren Überzeugung
nicht fehlen, besonders da er zeigt, daß der autor (nicht
autor) sich vielleicht auf historischen Blick versteht, und beizu
auch in jener früheren Zeit (v. die Vorrede) schon
25Volksscenen individualisirt à la Shakespeare (v. Sulla
und Marius, 2t Act) schildern konnte, welches angebliche
Talent ziemlich rar ist und sich aus Verfassers übrigen Stücken
nicht spüren läßt. Das Fragment hat Tollheiten und gewaltige
Stellen genug, um sich produciren zu können. Es ist nicht
30der Sulla, den Du in Leipzig hörtest, sondern ein in Hannover
umgearbeitetes Stück. — Übrigens veranlaßt es auch zur Frage,
ob es fortzusetzen sey, — da muß Antwort kommen, und ich
bin endlich klug genug geworden, nie anders zu fragen
(zu harpuniren) als wenn ich eine nießnutzende Antwort
35(einen Wallfisch) spritzend angezogen kommen sehe. — Eine
Saite hat wenigstens jeder Gebildete, welche bei Lecture meiner
4 Thiere (dear, Theure, vi, Vieh, Vieh-(loso-)Vieh) anschlägt.
— Der Köchy, er, der lange (wie ich brieflich beweisen kann)
verzagt war, weil er ganz ohne Grund glaubte, ich hielte
40ihn nicht für poetisch genug, läßt Dramen in Breslau und Cassel
aufführen? — Wie! tausend Teufel! ich speie in die sogenannte

[GAA, Bd. V, S. 159]

 


Poesie! ich halte das Herz für eine in das unrechte
Loch gelaufene Billard-Kugel! ich bin, wenn ich eitel bin,
eher auf alles andere eitel als auf meine früheren Poesie-Producte,
— ich fühle, sie jetzt weit überflügeln zu können,
5aber, bei meinem Mephisto, sollte ich mich irren, oder haben
meine Dir überschickten Dramen nicht mehr Kern, Feuer pp
als die Eseleien der sämmtlichen heurigen Dramatiker? Diese
letzteren Herrn sind fein, oft regelrecht (wie die Ignoranten
nach Maaßgabe ihrer Kritik meinen) — aber das auch zu
10werden, Handschrift ist mir jetzt wahre Kleinigkeit, — machen die
Herren nur erst Bilder, Gedanken, Pläne, Entwürfe, verschiedene
Charactere, wie ich sie vor 5 Jahren machte. Dieß
ist keine Prahlerei, — wollt' ich mir jetzt auf Poesie etwas
einbilden, das wäre als wenn ein Schmidt sich damit rühmte,
15daß er sich für einen tailleur ausgäbe, — in einer Sache die
mir innerlich schon lange jetzt auch der äußeren Lage
nach nicht relevant war, kann ich wohl ohne Verdacht der
Selbstschmeichelei sprechen. —

  Die Vorworte! (Vor wörter dem Sinne nach? Nein!) —
20Glaub' mir, sie schützen, sie helfen. Tieck's Brief gleichfalls.
Manches kann stehen bleiben, weil die Vorreden davor
stehen. Bei Betrachtung der Total-Vorrede und der den Stükken
II, III, IV speciell vorgesetzten Notizen, wirst Du finden,
daß ich ex officio die Hessen-Darmstädtische Militair-Zeitung
25lese, und je höher schieße, je niedriger ich in der Ferne treffen
will. Meine Vorreden sind so trocken, daß sie vielleicht manche
Stelle der Stücke retten. Ich kann übrigens nicht nähen und
mein Copist hat fast noch mehr zu scribeln als ich, — hefte
Du die losen (losliegenden) Vorworte mit einer Stecknadel
30an den resp. Stellen fest, — sie fallen sonst heraus.

  Und nun, da ich einmal die Pastete überschicke, so rathe
ich auch, laß drucken. Lärm gibt's! Abgang auch! Die
Inmoralität übernehme ich oder das „Ganze der Composition!“
Hier zu Lande allein wird man eine Masse Exemplare kaufen
35(einer meiner Landsleute, ein reicher Kaufmann, ist jetzt in
Frankfurt beim Prof. Herling, — er kennt mich, und willst
Du Dir einen Spaß machen, so besuch ihn in meinem Namen
und bring' ihn auf mich — sprich aber nicht von früheren
Verhältnissen, — er heißt Meyer) —, die Berliner Clique,
40aus denen sich soviele Schriftsteller entwickeln, obgleich bei
der dürren Hitze sonst wenige Würmer hervorkriechen, wird

[GAA, Bd. V, S. 160]

 


rasend werden. — Mon dieu, ich hätte gern noch einmal die
Welt zum Narren, und Du hast mir Handschrift die Lust geweckt, auch
läge ich gern einmal 1 Jahr in Paris, — ich versichere Dich
(oder Dir), ich habe einen Roman unter der Faust gehabt, der
5umfassender wie meine 4 Stücke zusammen ist, — ich habe
ihn, wie so vieles liegen lassen, — Journal- Bücher- Kritik-Theater
- Musik-Ideen, Politik, Geographie, Jurisprudenz
durchkreutzen mich, — manches ist schwarz auf weiß (welche
Farbe Preußen wegen seiner schlechten Schriftsteller angenommen)
10— aber ich will ewig verflucht seyn (möchte ich ausrufen),
wenn ich eher etwas drucken lasse als bis ich durch
den Druck des früheren Zeuges so weit gekommen bin, daß
man mir entgegen kommt. Toll will ich eintreten und vernünftig
enden. Wirst Du aber wirklich mein erster Verleger,
15so sollst Du auch mein steter Verleger bleiben, und Einfluß
auf meine Arbeiten haben.

  Neulich nicht, aber jetzt bitte ich um baldige Antwort
. Streich', arbeite in den übersandten Stücken wie Du
willst, — ich weiß, Du bist mäßig, wärest Du es aber auch
20nicht, — tout egal. Wo möglich laß die Angriffe auf die
Schriftsteller stehen, denn Persönlichkeiten ziehen an, und
die Herren sind theils unbedeutend, theils hilft auch bei ihnen
das Vorwort, — ich habe oft durch Grobheit Liebe oder doch
Furcht gewonnen.

25  Jetzt schließ' ich: sat prata. Merkwürdig, daß wir auf
einmal so wieder an einander gekommen. Du stehst vor mir.
Sollen wir heute nach Charlottenburg fahren? — Apropos!
Heine's Reisebilder? Habe vom 1sten Theile gehört, und zwar
mittelst alter Göttinger. Schreibt Heine erst Reisen, so heißt
30das: seine productive Kraft ist aus und er flüchtet zum
Erzählen von Begebenheiten. Aber auch das wird ihm Schweiß
gekostet haben. Einiger oder viel Witz, der jedoch gepreßt
erscheinen möchte, wird auch darin seyn, — die Gedichte sind
aber gewiß höchst erbärmlich, eben weil der Poeten-Jude
35Reisen schreibt.

  Alter Kettembeil, trink' ein Glas Rheinwein zu meinem
Gedenken, und gedenke dabei, daß jedes Glas Rheinwein mein
Blut ist oder mich doch so anzieht oder so auf mich wirkt
wie mein Blut, — erheitere mich bald Handschrift mit einer Antwort,
40genieß das Leben, betrachte das Heirathen als eine Speculation,
das Kinderzeugen als ein nothwendiges Übel, die Menschen

[GAA, Bd. V, S. 161]

 


als erste vom Dampf getriebene Maschinen, das Leben als ein
Mittel zum Vergnügen, und mich alsDeinen
  Detmold den 1st Juni    Grabbe.
      1827.    

5   [Adresse:] Handschrift An die J. C. Hermann'sche Buchhandlung in
Frankfurt am Main. Mit einem Paquet gezeichnet G. Frankfurt
A./M. Frei.

 


125.

H: 1 Doppelbl., 1 Bl. in 40; 4S., Adresse auf S. 6.
  Auf S. 6: Vermerk des Empfängers: 1827 Grabbe in Detmold den

[Bd. b5, S. 514]

 


1. Juni. Abgangsstempel: DETTMOLD 8/6
F: GrA
T: Salon S. 186—88, als Nr II.
D: WBl IV 385—89, als Nr 3.

S. 157, Z. 26: Nummern] Numern H
S. 158, Z. 25: individualisirt] indivialisirt H
S. 159, Z. 37: meinem] meinen H

S. 157, Z. 22: in specie: insonderheit.
S. 158, Z. 4 f.: à la Müllner hinter der [...] (Schuld): Deren
Anhang bildet eine „Beilage. Beurtheilung des Stücks und seiner
Aufführung in Wien [am 27. April 1813] aus der Zeitschrift Thalia
[Nr 68, 69 und 71 vom Jahre 1813], mit Anmerkungen des Verfassers.
“ (In der 1. Aufl. S. 205—50.) — culpa lata: grobe Fahrlässigkeit.

S. 158, Z. 38—41: Der Köchy [...] läßt Dramen in Breslau und
Cassel aufführen: Nachweisbar ist für das Jahr 1827 nur die Aufführung
des fünfaktigen Schauspiels „Der Schmuck oder die Kinder
des Hauses“ (nach Friedrich Schillers Entwurf); sie hat am 23. Okt.
in Hamburg stattgefunden.
S. 159, Z. 17: relevant: erheblich.
S. 159, Z. 35—38: einer meiner Landsleute, ein reicher Kaufmann
[usw.]: Heinrich Conrad Ernst Meyer, geb. zu Detmold am 17.
März 1796 als der Sohn des aus dem Braunschweigischen gebürtigen
Bürgers und Kaufmanns Heinrich Conrad M. Dieser hatte sich am
2. Juni 1795 mit Cathrine Elisabeth Herling, geb. Lüpke oder
Lübbecke, aus Lemgo verheiratet, der Witwe des am 13. März
desselben Jahres in einem Alter von 50 Jahren und acht Monaten
an der Schwindsucht verstorbenen Bürgers und Branntweinbrenners
Hermann Heinrich Wilhelm H. in Detmold. Aus dieser, am 19. Okt.
1779 in Lemgo geschlossenen Ehe stammte Simon Henrich Adolph
H., der mithin ein Stiefbruder Heinrich Conrad Ernst Meyers war.
S. 159, Z. 36: beim Prof. Herling: Simon Heinrich Adolf H.,
geb. am 13. Okt. 1780 zu Detmold als Sohn eines Kaufmanns,
hatte vom April 1801 an in Göttingen Theologie studiert und war
seit 1809 Lehrer am Gymnasium in Frankfurt am Main, auch eines
der tätigsten Mitglieder des 1817 gegründeten Frankfurter Gelehrtenvereins
für deutsche Sprache. Seine Lehrbücher haben insbesondere
die Syntax der deutschen Sprache und die Stilistik zum Gegenstande.
Während seines Frankfurter Aufenthaltes hat ihn Grabbe aufgesucht.
Gestorben ist H. am 1. April 1849 zu Frankfurt.
S. 160, Z. 4—6: ich habe einen Roman unter der Faust gehabt
[usw.]: Von diesem ist nichts bekannt.
S. 160, Z. 25: sat prata: Aus Vergils Eclogae 3,111: Claudite
iam rivos, pueri; sat prata biberunt (Schließt nun die Rinnen, ihr
Knechte! genugsam getränkt sind die Wiesen).
S. 160, Z. 28: Heine's Reisebilder: Der erste Teil (die „Harzreise“)
war 1826 bei Hoffmann und Campe in Hamburg erschienen; der
zweite lag seit April 1827 vor. Dieser enthielt die zweite und
dritte Abteilung der „Nordsee“, „Ideen. Das Buch Le Grand“ und
die „Briefe aus Berlin“.

[Bd. b5, S. 515]