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[GAA, Bd. IV, S. 50]

 


vorüberschießen, nicht gern entbehrte, denn man erinnert
sich dabei unwillkührlich an das meerdurchströmte, vielbewegte
Venedig. Aber den Scenenwechsel soweit zu treiben wie in Antonius
und Cleopatra, wo ohne Vorbereitung, Nothwendigkeit
5und Wirkung (nur diese drei Stücke
rechtfertigen den Scenenwechsel) Alexandrien, Rom, Messina
(und in diesen Städten wieder die verschiedenen Zimmer und
Straßen), Schiffe, syrische Ebenen pp pp im selben Acte wiederholt
den Schauplatz bilden, heißt mit der theatralischen
10Form spielen.

  Handschrift Erstdruck Wie mit dem Raum verfährt Shakspeare mit der Zeit. Auch
da läßt sich die Nichtbeachtung der Zeit zu den größten poetischen
Schönheiten benutzen, nur muß der Leser oder Zuschauer
alsdann, gleich dem Liebenden, welchem nach Schiller

15 „keine Glocke schlägt“

auch nicht an den Verfluß der Zeit erinnert werden. So
künstlerisch behandelt Shakspeare die Zeit im Macbeth, in dem
(wie, glaub' ich, schon Wilh. Schlegel sagt) der Zeiger vom
Zifferblatt der Uhr genommen ist und nur die Handlungen
20dahinrollen und wie ein Strom uns fortreißen. Aber Erscheinungen
wie im Wintermährchen, wo in den ersten Acten
das Kind geboren wird und im 4ten Aufzuge als erwachsenes
Mädchen auftritt, sind um so strenger zu mißbilligen, als alle
die Schönheiten, welche das Auftreten Perditas und Florizels
25begleiten, sich auch ohnedem hätten erreichen lassen, ja, es
wünschenswerth gewesen wäre, die ersten Acte mitsammt
der läppischen Eifersucht des Leontes und der Schwangerschaft
der Hermione in den Hintergrund zu stellen. Im
Othello sind die ersten beiden Acte gleichfalls außerwesentlich.

30
  Erstdruck — Aus dem Bisherigen, welches sich aus allen shakspearischen
Stücken noch weit mehr begründen ließe, ergibt sich das
Resultat, welches der anfänglichen zweiten Hauptfrage zur
Antwort dienen muß, von selbst. Specielle Wiederholung wäre
Wort-Verschwendung. Shakspeare ist groß, sehr groß, aber
35nicht ohne Schule, Manier, und vielfaltige Fehler und Extremitäten.


  Shakspeare verdient nicht das höchste bekannte Muster der
Tragödie genannt zu werden. Man erinnere sich Handschrift einmal der
Eumeniden des Aeschylus, des Oedipus in Kolonos vom
40Sophokles. In den Eumeniden wird das Schrecklichste aufgeregt,
was nur im Menschenleben erscheinen kann, die Furien

 

 
 
Werktext:Anmerkungen: